Konstantin Paustowskij war überrascht. Nein: Er war baff. Da hatte er als Redakteur der Zeitschrift »Matros« (Der Seemann) eine Kurzgeschichte gebracht, die ihn gepackt hatte. Spielte sie doch fast vor der Tür der Redaktion, im jüdischen Viertel von Odessa, in der Moldawanka, übel beleumundeter Bezirk der Gauner, Halsabschneider und Ganoven. Der junge Paustowskij, in seinen Zwanzigern und literarische Ambitionen hegend, staunte. Über die Dichte der Prosa. Über die Genauigkeit dieser Erzählung eines Mannes namens Isaak Babel.
Baff war er, als Babel in der Redaktion auftauchte. Jahrzehnte später schrieb Paustowskij in seiner ausgreifenden, wichtigen wie gewichtigen literarischen Autobiografie Erzählungen vom Leben, niemals zuvor habe er einen Mann gesehen, der so wenig nach Dichter ausgesehen habe. Gedrungen, eher klein, rundlich – Babel nannte sich selbst einmal einen »fröhlichen Mops«.
Merkwürdig bis bizarr, dass es bis heute keine zufriedenstellende Biografie auf Deutsch gibt.
Hängende Schultern, fast bucklig. Kein Hals. Asthmatisch röchelnd. Eine Nase wie ein Entenschnabel. Ölig schimmernde Augen. Handelsvertreter? Oder Händler? Bis, schrieb Paustowskij, bis Babel den Mund aufmachte: »Die allerersten Worte änderten alles. Mit anmutiger Stimme sprudelte ohne Unterlass Ironisches aus ihm heraus.«
Später habe er Babel nie ohne Entourage getroffen, fast immer sei dieser umlagert gewesen von Jüngeren. In einem Sommer hätten beide in Cape Velyky Fontan südlich von Odessa zufällig benachbarte Badehütten angemietet und sich angefreundet – Babel sei, schwärmte Paustowskij, als mündlicher Erzähler noch hinreißender, noch überwältigender gewesen.
LUBJANKA Dass es über Isaak Babel, 1894 in Odessa geboren, seit 1936 in Stalins Moskau ein wandelnder Toter, 1939 im Künstlerort Peredelkino verhaftet und Anfang 1940 im Moskauer Gefängnis Lubjanka erschossen, auf Deutsch bis heute keine wirklich zufriedenstellende Biografie gibt, ist merkwürdig bis bizarr.
Dafür liegen nun erstmals Dramen vor: Marija von 1934, die Leseprobe am bekannten Wachtangow-Theater am Alten Arbat kam sehr gut an und wurde kurze Zeit später von kommunistischen Ideologen verdammt – das Bild, das Babel vom revolutionären Petrograd 1920 zeichnete, stand in allzu krassem Kontrast zum Moskau des stalinistischen Terrors –, und Sonnenuntergang, das Stück, das in der Moldawanka spielt und es 1927 in der Provinz nur ein paar Mal auf die Bühne schaffte.
Dazu die interessanten wie mentalitätshistorisch aufschlussreichen Drehbücher, dazu Reportagen und Reiseberichte aus Georgien und Frankreich, flankiert von Babels Reden und Stellungnahmen, alles instruktiv und kundig kommentiert.
Dieser Band präsentiert aufregend den, wie von vielen kolportiert, endlos neugierigen Babel – nicht einmal Damenhandtaschen sollen vor ihm sicher gewesen sein. Einerseits als öffentliche Person, den schmalen Grat zwischen Selbstwürde und Propaganda er- und austastend. Andererseits als Homo privatus, der Intimes nur für die eigenen Augen aufschrieb. Wandernde Sterne ergänzt die vor acht Jahren erschienene Edition Mein Taubenschlag, die sämtliche Erzählungen Babels wie auch die erhalten gebliebenen Prosafragmente enthielt und noch um 16 Seiten umfangreicher war.
»REITERARMEE« Auch damals fungierten Bettina Kaibach und Urs Heftrich, die beide an der Universität Heidelberg lehren, als Herausgeber. Kaibach hat nun einen Großteil in dieser Ausgabe übersetzt, die auch das von Peter Urban übertragene Tagebuch 1920 enthält. Urban hatte vor 30 Jahren mit seiner Übersetzung der Reiterarmee entscheidend dazu beigetragen, Isaak Babel neben Anna Achmatova, Marina Cvetaeva, Boris Pasternak und Ossip Mandelstam als unbestritten wichtigsten Autor russischer Sprache in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hierzulande entdecken zu können.
Zudem machte Urban damals mit Babels Diarium einen weltliterarischen Fund, der publizistisch ausgreifend gewürdigt wurde. Da entdeckte man so umfassend wie nie zuvor einen Atem nehmenden Autor, der Ende der 1920er-Jahre kaum mehr veröffentlichte, aber weiterschrieb und in den 30ern entsetzt war von der Lage seines Landes.
Babel war endlos neugierig – nicht einmal Damenhandtaschen waren vor ihm sicher.
»Babel ist der erste Jude« gewesen, meinte der Kritiker Abram Ležnjov 1926, »der als russischer Schriftsteller in die russische Literatur eintrat.« Babel, Autor der erschütternden Pogrom-Geschichten, der bei und in Odessa aufwuchs, via Kiew nach St. Petersburg zog, als Journalist begann und, als Erzähler von Maxim Gorki entdeckt, für die Gaunergeschichten aus Odessa berühmt wurde.
Abgesang Seine Reiterarmee: entsetzlich zeitloses Dokument der Raserei, der Menschenzerfleischung, des brutalsten Antisemitismus. Und die odessitischen Geschichten: die frühen überbordend, aufschneiderisch, pittoresk, die späten dann melancholisch, ein Abgesang auf Kultur und Zivilisation und mehr als deutlich die Zerstörung durch die Sowjets, den Untergang des Landes, der Menschen, der Tradition, der Vergangenheit beschreibend.
Seine eigene Geschichte wollte Isaak Babel lediglich als »Geschichte eines Adjektivs« sehen. Tatsächlich angemessen aber ist ein Substantiv – »Weltliteratur«.
Isaak Babel: »Wandernde Sterne«. Herausgegeben von Urs Heftrich und Bettina Kaibach unter Mitarbeit von Brigitte van Kann. Übersetzt von Bettina Kaibach und Peter Urban. Kommentiert von Urs Heftrich u. a. und mit einem Nachwort von Bettina Kaibach. Hanser, München 2022, 848 S., 38 €