Dienstagabends regnet es Geraden und Haken bei Maccabi. Entlang der Wand fliegen die Fäuste durch die Luft, mit schnellen, rhythmischen Bewegungen. In der Glasfront gegenüber spiegeln sich 16 meist junge Boxer. Leichtfüßig tänzeln sie vor sich hin, barfuß, visieren mit bandagierten Fäusten imaginäre Gegner an, deren Schlägen sie ausweichen, um dann selbst einen Treffer zu landen. Tik tik tik tik, tönt das Kommando aus der Mitte der niedrigen Sporthalle. Eindringlich ist die Stimme, ohne auch nur ansatzweise zu schreien. Der Coach trägt einen schwarz- weißen Trainingsanzug. »Tempo«, ruft er, und seine Jungs legen einen Zahn zu.
Halbweltergewicht »Boxen ist Schnelligkeit, nicht Kraft«, holt Barry Groenteman zwischen zwei Anweisungen aus. Er geht in die Knie, federt auf den tiefen, blassgrünen Matten, die den Boden bedecken. Sein Rumpf pendelt, die flache Hand schlägt demonstrativ auf die Oberschenkel, als seien sie elastisch. Aufmerksam folgen ihm die Blicke, schließlich ist der drahtige 25-Jährige nicht nur Trainer, sondern amtierender niederländischer Meister im Halbweltergewicht, der Klasse bis 64 Kilo- gramm. Und noch etwas ist Barry Groenteman, und das verbindet ihn mit seinen Schützlingen: Jude. Der erste jüdische Boxchampion der Niederlande seit 50 Jahren.
Statistisch betrachtet ist das bemerkenswert. Doch die Zahlen bilden hier nur den Rahmen für eine Herzensangelegenheit: Dieser freundliche junge Mann mit der sanften Stimme will nichts weniger, als der Tradition neues Leben einhauchen. »Es gibt viele Zweige im Boxen«, sagt er. »Den Latinozweig, den englischen und einen jüdischen. Aber der existiert nicht mehr.« Früher war das anders, nicht nur in den USA, sondern auch und gerade in Amsterdam. Boxen bedeutete in den armen jüdischen Vierteln der Stadt eine Möglichkeit, das Überleben zu sichern. Hier liegt der Fokus von Barry Groenteman, der seit zehn Jahren boxt, davon die letzten drei als Profi: »Eine große Rolle spielen«, das will er, und sein Titel könnte die Initialzündung sein zu einem Revival des jüdischen Boxens.
Einen großen Schritt in diese Richtung machte er Anfang Oktober. Da trat er in seiner Stadt bei einer internationalen Boxgala zu Ehren Ben Brils an. Ben Bril ist sein Idol, der legendärste jüdische Faustkämpfer, den die Stadt je hervorbrachte. Acht Mal Landesmeister, und bei der Maccabiade 1935 gewann er Gold. »Als echter Amsterdamer und jüdischer Junge gehöre ich dorthin«, sagte Groenteman selbstbewusst. Nicht nur er schien das so zu sehen. Das Publikum begrüßte ihn begeistert, als er im schwarzen Bademantel mit weißem Davidstern auf dem Rücken den Ring betrat. Dass er seinen Kampf auch noch gewann, fand er »schöner als einen WM-Titel«.
Es ist nicht unbedingt so, dass Barry Groenteman nun in Maccabi-Kreisen seinen eigenen Nachfolger sucht. Vielmehr trat Eyal van der Hart im letzten Jahr an seinen alten Bekannten heran, mit der Frage, ob er nicht einen Boxkurs betreuen wollte. Der 30-Jährige ist Teil des neuen, verjüngten Vorstands von Maccabi Nederland, der zuletzt mit einigen Initiativen der kriselnden Vereinigung zahlreiche neue Mitglieder brachte. Für den Boxchampion stand außer Frage, dass er dabei helfen würde – und zwar gratis: »Wir sind doch eine Gemeinschaft!«
Liegestütze Die beiden Visionäre stehen nun vor der Gruppe. Groenteman, der das jüdische Boxen wiederbeleben will, und Eyal van der Hart, selbst erfahrener Kampfsportliebhaber, der sich zum Ziel gesetzt hat, bei Maccabi wieder »Leben in die Bude« zu bringen. Eyal holt aus, Barry demonstriert seine Deckung, dann taucht er unter den Fäusten weg. Sie wiederholen die Übung, klatschen sich ab. Noch eine Runde Liegestützen, dann heißt es »Handschuhe an!«. Im vorderen Teil der Halle finden sich Sparringspaare. Hinten, an den Sandsäcken, bekommen die, die noch nicht so lange dabei sind, extra Schlagtraining.
Unweigerlich kommt der Gedanke an die Überschriften in den Tagen nach seinem großen Auftritt. Niederländische Medien widmeten Barry Groenteman eine Menge Aufmerksamkeit. Immer ging es dabei um seine jüdische Identität, und meist kam auch das Boxtraining bei Maccabi zur Sprache. »Groenteman will jüdische Jugendliche wehrfähiger machen«, hieß es dort immer wieder.
Selbstverteidigung Der Gedanke liegt nahe, natürlich. Schließlich gab es in den vergangenen Jahren einige antisemitische Übergriffe auf den Straßen Amsterdams. Die schwarzen Krav-Maga-T-Shirts zweier Teilnehmer scheinen zu unterstreichen, dass es hier um jüdische Selbstverteidigung geht. Groenteman indes findet das nicht. »Völlig aufgeblasen« hätten die Medien diesen Aspekt, und was die Wehrfähigkeit betrifft, liege sein Anspruch in der Natur der Sache. »Auch der Trainer von Bayern München will doch seine Mannschaft stärker machen.«
Die jungen Boxer bestätigen seine Worte. Sam und Daniel, die inzwischen das Techniktraining an den Säcken beendet haben, kommen vor allem, um sich einmal in der Woche so richtig zu verausgaben. Die beiden Studenten sind 21 Jahre alt. Ein gemeinsamer Freund brachte sie zum Boxen, mehr als eine Handvoll Trainingsstunden haben sie noch nicht absolviert. Sie schätzen den Rahmen, den Maccabi dafür bietet, da ist der Kontakt untereinander schon ein anderer als im Fitnessstudio. Doch Selbstverteidigung als Juden? Kein Thema, versichern sie, bevor sie sich unter die Sparringspaare mischen.
Wenig später blickt Groenteman auf die Uhr. »Okay, Handschuhe können aus«, sagt er knapp und verabschiedet die Boxer, die an ihm vorbei in Richtung Umkleide strömen. Die meisten haben es an diesem Abend eilig, denn ein wichtiges Champions-League-Match von Ajax Amsterdam wird bald angepfiffen. Eigentlich wollte auch Barry Groenteman einst Profi beim kickenden Stolz der Stadt werden. Aber das war, bevor er das Boxen entdeckte und sich seiner Mission bewusst wurde: »Die Tradition wieder dorthin zu bringen, wo sie hingehört«.