Ich bin in Japan. In Tokio. Fragen Sie mich nicht, wie ich hierhergekommen bin, aber ich bin hier. Und zwischen einem Schintoschrein und einem buddhistischen Tempel entdecke ich, dass es auch hier Juden gibt. Ja, echte Juden. Sie nennen sich JCJ, Jüdische Gemeinde Japans. Können Sie sich das vorstellen?
Ich muss mich sofort mit ihnen in Verbindung setzen. Ich habe noch nie einen japanischen Juden gesehen, aber sie existieren! Sie haben sogar eine Synagoge. Ich frage, ob ich zum Gottesdienst kommen kann. Sie antworten ja und sagen, dass das etwas kostet, Mitgliedsbeitrag oder so. Aber ich will ja nicht ihrer Gemeinde beitreten, ich will sie nur sehen. Kann ich Juden umsonst anschauen, oder sind Juden wie Ausstellungsstücke im Museum, wo man fürs Anschauen bezahlen muss?
Yoko, Noko, Toko Ich mache mich auf den Weg zur Synagoge. Ich bin so aufgeregt, kann es kaum abwarten, Juden zu sehen, die auf Namen wie Yoko, Noko oder Toko hören. Haben Sie schon mal Juden mit solchen Namen erlebt? Stellen Sie sich einen Schabbatgottesdienst vor, und die Anwesenden werden zur Bima gerufen: Yoko, Sohn von Hiroshi. Wow!
Voller Erwartung komme ich an der Synagoge an. Ein israelischer Wachmann steht davor. Er heißt bestimmt nicht Yoko. Wir plaudern auf Hebräisch. Er kommt zu dem Schluss, dass ich koscher bin und lässt mich hinein. Yoko, Noko und Toko entpuppen sich als Larry, Bill und Phil. Habe ich die weite Reise gemacht, um amerikanische Juden aus Brooklyn zu sehen? Sie stellen mich dem Rabbiner vor. Er heißt Antonio Di Gesù. Sind es messianische Juden? Sie servieren Gefilte Fisch. Essen messianische Juden Gefilte Fisch? Ich setze mich mit den Juden aus Brooklyn und mit Jesus aus Italien an den Tisch, um es herauszufinden.
Schnell wird klar, dass diese Juden vor allem eins sind: Liebhaber. Sie lieben japanische Frauen. Sie sind romantisch, nicht messianisch. Sie haben sich verliebt. Ihre japanischen Frauen sind konvertiert, und jetzt sind alle jüdisch. Ich schaue mich um in der Hoffnung, auch die eine oder andere jüdische Frau zu sehen, die sich in einen japanischen Mann verliebt hat, aber es gibt keine. Es funktioniert offenbar nur in die eine Richtung.
Wir plaudern, die Liebhaber und ich. Es dauert allerhöchstens 42 Sekunden, bis Larry, Bill und Phil mir klargemacht haben, dass sie äußerst erfolgreiche Männer sind. Japanische Frauen, was soll man machen, verlieben sich nicht in arme Juden.
Und Larry, Bill und Phil lieben nicht nur ihre japanischen Frauen, sie sind allem Japanischen zugetan, was oder wer immer es sei. Das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC), so berichten sie mir, habe etwa 2,3 Millionen US-Dollar Rettungshilfe in Japan zur Verfügung gestellt, von denen bis dato rund die Hälfte verteilt wurde. »Die Gemeinde«, fahren sie fort, »hat das JDC in Japan vertreten.«
»Es gibt in Japan keinen Antisemitismus«, sagt einer. »Die Japaner lieben die Juden.« Und aus diesem Grund wollen sich amerikanische Juden bei den Japanern revanchieren.
Ehepaar Nach dem Essen gehe ich nach draußen, um einen Yoko oder einen Noko zu finden. Ich liebe Menschen, die mich lieben. Also besuche ich ein japanisches Ehepaar. Die beiden arbeiten beim Rundfunk, und beide lieben sie ihr Japan. Ich bin von Liebe umgeben. Aber lieben sie auch andere Länder und Menschen? »Ja, alle«, sagen sie. »Wir lieben alle, überall«, bekräftigt Osamu, der Ehemann. Er liebe die Amerikaner. Und die Kubaner. – Wie ist es mit den Chinesen? Lieben Sie die Chinesen? »Das Volk, ja, aber nicht die Regierung. Wir lieben alle Menschen.« – Auch die Koreaner? »Ja, alle Koreaner.« – Venezolaner? »Sie sind zu weit entfernt, ich kenne sie nicht.« – Brasilianer? »Ja, Brasilianer auch.« – Pakistaner? »Lieben wir auch.« – Afghanen? »Ja, die auch.« – Israelis? »Nun ja, das ist schwierig zu beantworten.« – Wieso? »Sie sind das jüdische Volk.« Und Sie mögen Juden nicht? »Nein, das habe ich nicht gesagt.« – Was haben Sie gesagt? »Schwierig.« – Die Juden sind schwierig? »Ja.« – Warum? »Ich weiß es nicht.« – Kennen Sie Juden persönlich? »Ich kenne zwei Juden.« – Zwei Juden? »Ja, zwei Juden.« – Und die sind schwierig? »Sie sind schlau.«
Alle beide? »Ja. Juden sind schlau.« – Alle Juden? »Ja.« – In welcher Hinsicht schlau? »Zahlen.« – Sie meinen: Geld? »Das auch.« – Was sonst? »Juden haben sehr gute Logik.« – Und sind schwierig? »Sie kämpfen in Israel, viele Jahre.« – Japaner kämpfen nicht? »Nein! Japaner lieben den Frieden.« – Alle Japaner? »Ja. Japaner kämpfen nicht gern; es ist wider ihre Natur, wider ihre Kultur.«
Erinnern Sie sich an den Zweiten Weltkrieg? Er starrt mich an, als spräche ich Arabisch mit ihm. Ich versuche es auf direkterem Weg: Sie, also die Japaner, waren früher sehr gute Freunde von Hitler. Er starrt noch eindringlicher. Ich fahre fort: Die Nazis, erinnern Sie sich? Er sieht mich an, doch spricht er nicht.
Osamu ist ein netter Kerl. Arbeitet hart. Zwei Jobs. Er ist Programmleiter für einen japanischen Radiosender und daneben Gärtner. Er hält sich an die Spielregeln, liebt sein Land und hat ein Problem mit »den Juden«.
Fukushima Osamu ist nicht der Einzige, wie ich in den folgenden Tagen feststelle. Eine nicht geringe Anzahl Japaner mag Juden nicht. Sogar in Fukushima, wo die Menschen jeden Tag mit Bildern des Todes konfrontiert sind, finden sie noch die Zeit, schlecht über die Juden zu denken.
Rund 1.500 Juden leben in Japan, einem Land mit mehr als 120 Millionen Einwohnern. Warum machen Japaner sich überhaupt Gedanken über die Juden? Ich frage sie, aber sie können nicht antworten. Sie lachen bloß und lächeln mich auf seltsame Weise an.
Vor der Abreise treffe ich mich mit Phil auf einen Kaffee. Japan, meint er, sei »eine gigantische bewachte Wohnanlage«. Er hat recht. Und es ist eine einzige gigantische Familie. Und in dieser gigantischen bewachten Familie findet man die Yokos, Nokos und Tokos durchaus – wenn man danach sucht. Sie sind keine Juden; sie sind Judenhasser. Ob Larry, Bill und Phil das jemals erfahren werden. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, Geld zu verteilen in der Hoffnung, damit Liebe zu kaufen. Unter uns gesagt: Ich habe keine Ahnung, weshalb Osamu glaubt, Juden seien schlau.
Der Autor ist Gründungsdirektor des Jewish Theater of New York.