Eines möchte Arsenij Finberg klarstellen: »Wir fühlen uns alle als Europäer, egal welcher Religion wir angehören.« Der 31-Jährige hat vergangene Woche bei den Studentenprotesten auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz mitgemacht, und am Sonntag gehörte er zu den rund 200.000 Demonstranten, die in Kiew für Europa auf die Straße gingen.
Die Proteste der Pro-Europa-Bewegung waren am Wochenende in eine Revolte gegen Präsident Wiktor Janukowitsch umgeschlagen. Die Demonstranten machen den Staatschef für das Scheitern eines Assoziierungsabkommens mit der EU verantwortlich und werfen ihm Korruption, Vetternwirtschaft und Machtmissbrauch vor.
Am Samstagmorgen löste die Spezialeinheit »Berkut« eine friedliche Demonstration gewaltsam auf; rund 70 Jugendliche flohen ins nahe gelegene St. Michaelskloster. Einen Tag später kam es vor dem Präsidentensitz zu Straßenschlachten mit der Polizei.
Rückfall An den Studentenprotesten beteiligen sich auch viele Juden. »Sie engagieren sich für ihr Land«, sagt Hebräischlehrer Daniel Epstein. Orthodoxe Juden würden sich zwar eher zurückhalten, aber sie verurteilen den gewaltsamen Polizeieinsatz gegen Jugendliche am Samstag. Die Vereinigung der Jüdischen Organisationen und Gemeinden der Ukraine (VAAD) warnt angesichts der Gewalt vor einem Rückfall in »totalitäre Sowjetzeiten«.
Arsenij Finberg ist enttäuscht, dass sich Präsident Janukowitsch von Europa entfernt. Das Assoziierungsabkommen würde die Ukraine zu einem Teil des europäischen Binnenmarkts machen, Zölle und Handelsschranken fielen, und die Regierung wäre gezwungen, die Korruption zu bekämpfen. »Ich verlange keinen europäischen Pass und keine Visafreiheit«, sagt Arsenij, »aber meine Kinder sollen in einem europäischen Land aufwachsen«, fügt der Mann mit dem schwarzen Haar hinzu.
Daniel Epstein hingegen glaubt nicht, dass Europa die Probleme in seinem Land lösen kann. Die Ukraine solle weder in Richtung Russland noch in Richtung EU rücken, findet der 26-Jährige. Rund 25 Prozent der ukrainischen Exporte gehen nach Russland, dem größten Handelspartner der ehemaligen Sowjetrepublik. Mit dem Assoziierungsabkommen würden russische Absatzmärkte wegfallen. Der Kreml drohte in den vergangenen Monaten immer wieder mit Handelskrieg, sollte Kiew den Freihandelsvertrag mit der EU unterzeichnen.
Geschäftsklima Trotzdem unterstützt Epstein die Proteste. Ihm missfällt Janukowitschs prunkvoller Lebensstil. Der Staatspräsident residiert nördlich von Kiew in einem Palast auf einem 140 Hektar großen Grundstück – mit Golfplatz, Reitklub und Yachthafen. Während Janukowitsch in Luxus schwelgt, steht die Wirtschaft des Landes vor dem Abgrund. »Das Geschäftsklima ist so schlecht wie nie«, ergänzt Arsenij Finberg, der in Kiew eine Reiseagentur betreibt. Er müsse ständig hohe Schmiergelder an Feuerwehr, Verwaltung und Steuerbehörde zahlen, beklagt er. Korruption gab es zwar auch unter Julia Timoschenko, berichten Unternehmer, doch nicht in diesem Ausmaß.
Durch Kiew marschieren derzeit allerdings nicht nur Demokraten. Auch die nationalistische Swoboda-Partei, die übrigens gute Beziehungen zur NPD pflegt, organisiert Proteste. Swoboda-Aktivisten stürmten am Sonntag das Kiewer Rathaus und hissten rot-schwarze Banner der Ukrainischen Aufständischen Armee, die im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierte.
Provokateure Am Sonntag feuerten Radikale vor dem Präsidentensitz Leuchtgeschosse und zündeten Rauchbomben – die Polizei setzte daraufhin Tränengas ein. Die Opposition behauptet, von der Regierung bezahlte Provokateure, sogenannte Tituschki, hätten die Miliz herausgefordert. Das ist nicht sicher, denn bei den Ausschreitungen waren auch Angehörige der UNA-UNSO dabei, einer militanten rechtsradikalen Partei aus dem Westen der Ukraine.
Unternehmer Arsenij bezweifelt, dass die Opposition stark genug ist, den Präsidenten zu stürzen. Der Boxer Vitali Klitschko, Fraktionsvorsitzender der Partei »Ukrainische demokratische Allianz für Reformen« (UDAR), zeige zu wenig Profil; Arsenij Jazenjuk, Fraktionschef der Vaterlandspartei, sei intelligent, aber nicht charismatisch; und Swoboda-Chef Oleg Tijanibok könne nur im Westen der Ukraine viele Wähler mobilisieren. Trotzdem findet Arsenij: »Je mehr Opposition auf der Straße ist, desto besser.«