Die Angehörigen von Leonid Gosman, einem regimekritischen russischen Publizisten und früheren Oppositionspolitiker, sind in großer Sorge: Gosman (72), der im Juni aus Deutschland nach Moskau zurückgekehrt war, wurde Ende August nach einem Krankenhausaufenthalt von der Polizei in Gewahrsam genommen und im Schnellverfahren zu einem »administrativen Arrest« von 15 Tagen verurteilt.
Als Grund wurde ein Facebook-Post aus dem Jahr 2020 angegeben, in dem er sich über die russische Gesetzgebung lustig machte, der zufolge es verboten ist, die Sowjetunion mit Nazi-Deutschland zu vergleichen. Gosman hatte damals in einem Eintrag geschrieben: »Es ist falsch, sie gleichzusetzen - Hitler war ein absolutes Übel und Stalin noch schlimmer. [...] Hitler hat einen Krieg gegen die Menschheit entfesselt, die Kommunisten haben den totalen Krieg gegen ihr eigenes Volk erklärt.«
AUSSAGEN Noch im Gefängnis wurde Gosman dann vergangene Woche erneut zu weiteren zwei Wochen Arrest verurteilt. Grund war ein Artikel, den er 2013 verfasst und in dem er die Methoden des sowjetischen Abwehrgeheimdienstes SWR mit denen der SS verglichen hatte. Zudem wurden nunmehr die Haftbedingungen verschärft. Seine Frau darf ihm kein Essen mehr ins Gefängnis bringen.
Da ihr Vater wegen einer chronischen Gallenerkrankung eine spezielle Diät einhalten müsse, um sich auf eine Operation vorzubereiten, sei das eine zusätzliche Erschwernis, sagte seine Tochter Olga Gosman, die in Deutschland lebt, dieser Zeitung.
Es widerspräche dem russischen Recht, einen schwerkranken Mann einfach einzusperren. Die Leonid Gosman von der Justiz zur Last gelegten Delikte seien in Wahrheit gar nicht strafbar. Ihr Vater habe schließlich nicht die Rote Armee mit der Wehrmacht gleichgesetzt, sondern Stalins Handeln mit dem Hitlers verglichen. Zudem hätten die Moskauer Richter statt der üblichen Geldstrafe sogleich die Höchststrafe von jeweils 15 Tagen Haft verhängt, Olga Gosman zufolge auf eine politische Einflussnahme hindeutet.
ISRAEL Und sie vermutet auch antisemitische Motive, denn: Leonid Gosman ist Jude. Er besitzt auch die israelische Staatsbürgerschaft. »Antisemitismus war schon immer der Kern von Putins Regierung und des Geheimdienstes KGB. Putin versucht jetzt, die Juden für alles verantwortlich zu machen, was nicht richtig läuft, um so von sich selbst abzulenken«, glaubt Olga Gosman. Darüber hinaus trügen antisemitischen Stimmungen in Russland auch zum Hass auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi bei.
Normalerweise dürften Oppositionelle Russland verlassen, sagt sie, jüdische Widersacher Putins würden dagegen »mit besonderer Grausamkeit« behandelt. Für die Tochter kommt die Behandlung ihres kranken Vaters in dem Moskauer Gefängnis einer Folterung gleich.
Auch der Europaabgeordnete Sergey Lagodinsky (Bündnis90/Die Grünen) ist über die jüngste Entwicklung bestürzt. Der Jüdischen Allgemeinen sagte er: »Ich mache mir große Sorgen, dass der Kreml zur Konsolidierung der Unterstützung für seine Politik die jüdische Karte spielt. Schon jetzt erscheinen Artikel, die Opposition als ›unrussisch‹ verunglimpfen. Der Druck auf die Jewish Agency for Israel (Sochnut) war ebenfalls ein unangenehmes Novum. In Krisenzeiten eignen sich Juden immer als Sündenböcke für möchtegernkluge Politikberater.«
Lagodinsky, der selbst russische Wurzeln hat und 1993 als sogenannter jüdischer Kontigentflüchtling nach Deutschland kam, fordert von der israelischen Regierung, im Fall Gosman zu intervenieren. »Schließlich geht es hier auch um einen ihrer Bürger, und Israels Beziehungen mit Russland sind - anders als die zur Europäischen Union - weniger angespannt.«
FESTNAHMEN Bereits im Juli war Leonid Gosman kurzzeitig von der Polizei festgenommen worden, nachdem das russische Innenministerium im Rahmen von Ermittlungen in einem Strafverfahren gegen ihn einen Haftbefehl erlassen hatte. Ihm wurde vorgeworfen, gegen das Gesetz verstoßen zu haben, das russische Staatsbürger verpflichtet, die Behörden über ihre weitere Staatsangehörigkeit oder eine Aufenthaltsgenehmigung im Ausland zu informieren. Gosman gab damals an, er habe die Behörden ordnungsgemäß über seine israelische Staatsbürgerschaft informiert. Ihm wurde aber vorgeworfen, dies nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist getan zu haben.
Der 1950 in Leningrad geborene Gosman ist studierter Psychologe und arbeitete zu Sowjetzeiten als Dozent an der Moskauer Lomonossow-Universität. Anfang der 90er-Jahre wurde der Liberale Berater in der Regierung von Ministerpräsident Jegor Gaidar. Später arbeitete er für Anatoli Tschubais im Kreml. Tschubais war ein enger Vertrauter des damaligen Präsidenten Boris Jelzin und leitete Ende der 90er-Jahre dessen Präsidentschaftskanzlei.
Im Jahr 2000 gründete Gosman die liberale Partei »Union der rechten Kräfte« mit, bei der er führende Ämter innehatte. 2008 wurde schließlich die liberale Partei »Die rechte Sache« ins Leben gerufen, zu deren Co-Vorsitzendem Gosman gewählt wurde.
Seit Jahren gilt er als scharfer Kritiker des Putin-Staates. Vor Kurzem rechnete er in einem Gastbeitrag für die Zeitung »Nowaja Gaseta« mit dem Regime und dem Krieg gegen die Ukraine ab und kam darauf auch auf die Reaktion des Westens zu sprechen. »Ein Feind ist nicht jemand, der dich nicht mag - viele Menschen mögen unseren Staat nicht, aber warum sollte man uns eigentlich lieben? Für die Grobheit unserer Beamten, für ihre Selbstgerechtigkeit, für unsere ›Entnazifizierung‹, für unsere Versuche, der Welt vorzuschreiben, wie wir leben sollen?«, fragte er.
Die Bedrohung für den russischen Staat ist also nicht nur oder sogar in erster Linie die Diversifizierung der europäischen Energieversorgung, sondern der technologische Fortschritt als solcher - energieeffiziente Motoren, energieeffiziente Häuser, High-Tech-Beleuchtungssysteme.
RÜCKKEHR Die russische Führung sei sich bewusst, dass der Westen sich von der Abhängigkeit von russischem Erdgas abnabeln werde und auch der technologische Fortschritt dabei eine Rolle spielen werden. Der russische Staat unter der Führung Putins sei dagegen, so Leonid Gosman, »eine Entschuldigung für Archaik und Rückständigkeit«.
Kurz vor dem russischen Angriff auf die Ukraine hatten er und seine Frau Marina Russland in Richtung Deutschland verlassen. Im Mai wurde Leonid Gosman dann von den russischen Behörden als »ausländischer Agent« und damit offiziell als Gegner der Putin-Regierung eingestuft. Dennoch ließen er und seine Frau sich von seinen Angehörigen nicht davon abbringen, im Juni wieder nach Moskau zu fliegen.
Den Richtern, die ihn dort verurteilten, versicherte er zwar, nach Verbüßung der Haft sofort wieder das Land zu verlassen. Doch Olga Gosman ist sich nicht sicher, ob ihr Vater tatsächlich am kommenden Mittwoch das Gefängnis als freier Mann verlassen kann. Sie fürchtet, er könnte erneut verurteilt werden – zu einer viel längeren Haftstrafe.