Vor 90 Jahren gründeten Flüchtlinge aus Nazi-Europa in New York ein Nachrichtenblatt namens »Aufbau«. Für die Menschen, die versuchten, im Exil an ihrer deutschen Kultur und Sprache festzuhalten, wurde die Zeitung zu einer kleinen Heimat in Papier und bald zur wichtigsten Informationsquelle und Anlaufstelle für jüdische und andere deutschsprachige Flüchtlinge in den USA.
Die Liste der Autorennamen liest sich wie ein Who is Who der Literaten und Denker des 20. Jahrhunderts, darunter Hannah Arendt, Carl Zuckmayer, Ludwig Marcuse, Lion Feuchtwanger, Alfred Polgar, Gershom Scholem und Thomas Mann. Letzterer saß zeitweise im Herausgebergremium, wie auch Albert Einstein und Stefan Zweig.
Der »Aufbau« gehörte zu den ersten Publikationen, die über die systematische Ermordung der europäischen Juden berichtete, was zu Anfeindungen führte. Nach der Schoa half die Zeitung Überlebenden bei der Suche nach ihren Verwandten. Später wurden Dialog und Aussöhnung zu den treibenden Themen.
Während die Leserzahlen in den USA abnahmen, weil die jüngeren Generationen immer weniger Deutsch sprachen, nahmen sie in Deutschland wieder zu. Die vor allem aus Spenden finanzierte Zeitung wurde immer wieder totgesagt, seit 1999 wurde in Frankfurt gedruckt, und sogar ein Umzug zurück nach Deutschland war angedacht. Doch im März 2004 wurde »Aufbau« eingestellt.
Die Rettung kam aus der Schweiz. Ende desselben Jahres erwarb die Jüdische Medien AG in Zürich die Verlagsrechte und gab seit Februar 2005 den »Aufbau« als Hochglanz-Monatsmagazin heraus. 20 Jahre später steht nun die nächste Neuerfindung an, mit neuem Layout und neuem Herausgeber.
Der Autor und Journalist Michel Friedman hat viel vor mit dem ehemaligen »Nachrichtenblatt des German-Jewish Club, Inc., New York, N.Y.«. Der neue »Aufbau« sei »eine Melange aus ›Lettre International‹ und ›New Yorker‹ «, sagt der 68-Jährige im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Und das in Text und Foto, denn Kunst spiele im neuen »Aufbau« eine große Rolle.
So beginnt die Jubiläumsausgabe, die am 24. Januar erscheint, auch gleich mit Gerhard Richters Bildreihe »Birkenau«, die der Künstler extra für die Zeitung kuratiert habe, »und Sie wissen, was das bedeutet«, so Friedman über den sonst eher sperrigen Maler. Die Texte liefern Autoren wie Ari Folman, Sibylle Berg, Anetta Kahane, Raphael Gross, Thomas Sparr, Monica Strauss, Robert Menasse, Andreas Mink und Doug Chandler.
Ruhe und Qualität
Die auch längeren Artikel sollen »die Pluralität des Denkens widerspiegeln«, so der neue Herausgeber. »Das heute machen zu dürfen, ist ein großes Privileg«, heißt es doch, »sich der Hochgeschwindigkeit der aktuellen Medienwelt« zu entziehen, ohne dabei an Aktualität zu verlieren. »Aufbau« setze »auf die Ruhe und damit auf die Qualität des Denkens«.
»Der ›Aufbau‹ ist per Definition und mit seiner Geschichte ein Exil.«
Michel friedman
Auf die Frage, was ihn zum »Aufbau« gezogen habe, antwortet Friedman mit dem Auslöser für dessen Gründung: das Exil. »Die Flucht ist die ewige Frage der Menschheit. Menschen sind immer in Bewegung.« Aber dazu gebe es zu wenige Stimmen. »Diese Zeitschrift ist eine moderne, aufgeklärte, den Menschenrechten verpflichtete, liberale, auch das Judentum repräsentierende Stimme. Der ›Aufbau‹ ist per Definition und mit seiner Geschichte ein solcher Ort, ein Exil. Eben auch weil er nicht nur jüdische Stimmen, sondern auch nichtjüdische in ihrer Pluralität repräsentiert.«
Der »Aufbau« wolle Grenzen überwinden, Perspektiven und Kulturen vermitteln, Themen von verschiedenen Seiten beleuchten, zeigen, dass es nicht die eine einzige Wahrheit gibt, sondern dass diese nur in der Vielfalt der Betrachtung möglich ist.
Motivierung eines jungen Publikums
Dann wird Friedman sehr ernst: »Ich glaube, wir haben ein sehr kurzes Zeitfenster, in dem wir die aufgeklärte Moderne, die der Menschlichkeit verpflichtete Demokratie, noch schützen können. Ich glaube, dass wir eine Zerbröselung von demokratischen Staaten erleben, wo Rechtsstaatsprinzipien und Minderheitenrechte zunehmend in Gefahr sind. Menschliches Leben, jüdisches Leben ist nur möglich, wenn die Menschlichkeit a priori gilt. Hannah Arendt hat die Menschenrechte als das Recht, Rechte zu haben, definiert. Es ist Bürgerrecht, dass kein Mensch mehr das Recht hat, mir mein Menschsein abzusprechen. Dieses höchste Gut der Moderne, das kaum Verwurzelung im historischen Gedächtnis der Menschheit hat, ist unter dem größten Druck, seit es diese Moderne gibt. Wir alle müssen es mit allem schützen, und vor allem jüngere Menschen dazu motivieren und mobilisieren, sich für diese wunderbare Idee starkzumachen.« Dazu solle der »Aufbau« beitragen.
Aber wie will diese Großmutter einer Zeitung ein junges Publikum erreichen? »Mit Partizipation«, sagt Friedman. Die Redaktion sei zwar klein, aber jung. Es solle Austausch geben mit den Lesern, die vor allem online unterwegs sind. Und in den kommenden Jahren werde »Aufbau« im Netz sicher auch auf Englisch publizieren.
Offensichtlich hört er das Stirnrunzeln und sagt: »Ja, Denken ist anstrengend und kompliziert. Aber wenn man es übt und wenn man sich eine Kondition erarbeitet hat, dann ist Denken etwas ganz Großartiges! Ich bin überzeugt davon, dass es neben Trash-TV- und TikTok-Fans auch sehr viele junge Menschen gibt, die sich nach Qualität sehnen. Auch denen stehen wir mit ›Aufbau‹ zur Verfügung.«