Spaziert man dieser Tage durch die bulgarische Hauptstadt Sofia, kann man auf kürzlich freigelegten Straßen der römischen Stadt Serdica wandeln wie im vierten Jahrhundert die Kaiser Galerius und Konstantin der Große.
Serdica war damals Schauplatz epochaler Ereignisse für die Zivilisationsgeschichte der Menschheit, erließ Imperator Galerius im Jahr 311 hier doch sein Toleranzedikt, das der Christenverfolgung ein Ende bereitete. Serdicas Grundmauern im Zentrum Sofias sind umgeben von Gotteshäusern vierer Weltreligionen, der Sveta-Nedelja-Kathedrale, der Banja Baschi-Moschee, der Synagoge und einer katholischen Kirche.
Toleranz Viele Bulgaren halten sich für ein tolerantes Volk ohne Vorurteile gegen religiöse oder ethnische Minderheiten und verweisen zum Beleg gern auf die Rettung der bulgarischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Wie im Ersten Weltkrieg war Bulgarien damals Bündnispartner des Deutschen Reiches, widersetzte sich aber dem Verlangen der Nationalsozialisten, die Juden des Landes in die faschistischen Vernichtungslager zu deportieren. Wem dafür das größte Verdienst gebührt, darüber gibt es unterschiedliche Versionen. Unbestritten ist die wichtige Rolle, die Geistliche der Bulgarisch-orthodoxen Kirche spielten – allen voran Sofias Metropolit Stefan und der Plovdiver Metropolit Kiril.
Anlässlich eines Israelbesuchs des bulgarischen Ministerpräsidenten Boiko Borissov haben vor Kurzem dort lebende bulgarischstämmige Juden angekündigt, die Bulgarisch-orthodoxe Kirche für den Friedensnobelpreis vorzuschlagen. Ihr Vorschlag findet die Zustimmung von Maxim Benvenisti, dem Vorsitzenden von »Schalom«, der jüdischen Dachorganisation des Landes. »Es ist sehr schön, wenn mehr darüber gehört wird, was Bulgarien während des Holocausts für die Juden getan hat. Die orthodoxe Kirche ist die einzige Kirche auf der Welt, die einmütig, von ihrer obersten Hierarchie bis zum letzten Geistlichen unseren Angehörigen und unserer Gemeinschaft geholfen hat. Ich denke, darüber muss man mehr reden«, sagt Benvenisti.
»Wo ihr hingeht, da will auch ich hingehen«, soll Metropolit Kiril am 9. März 1943 zu Tausenden auf einem Schulhof in Plovdiv zum Abtransport in die Todeslager versammelten Juden gesagt haben. »Schande und Schmach, Herr Ministerpräsident, was tun Sie mit unseren Mitbürgern, den Juden? Wenn Sie Ihre Haltung ihnen gegenüber nicht ändern, verhänge ich den Kirchenbann über Sie und Ihre Regierung«, drohte Sofias Metropolit und späterer Exarch Stefan am 6. Mai 1943 Regierungschef Bogdan Filow.
Außer dem Beistand der christlichen Kirchenführer gab es auch Protest in der Bevölkerung und von Politikern wie dem stellvertretenden Parlamentspräsidenten Dimitar Peschew. Ihre Zivilcourage bewirkte schließlich, dass Zar Boris III. und dem Kabinett Filow die Auslieferung der bulgarischen Juden an die deutschen Faschisten nicht opportun erschien und fast 50.000 bulgarische Juden der Vernichtung entgingen. Zuvor waren allerdings rund 11.000 Juden aus den von Bulgarien besetzten Gebieten Mazedonien, Thrakien und Pirot in die Todeslager geschickt worden.
Synode »Politiker und Geistliche haben alles getan, diese Leute zu retten. Das gab es so sonst in keinem anderen Land«, begrüßt Stella Behar, Verwaltungsdirektorin der Synagoge in Sofia, die Nobelpreisnominierung. »Zweifellos haben die Metropoliten der Bulgarisch-orthodoxen Kirche eine sehr wichtige und positive Rolle für die Rettung der bulgarischen Juden gespielt«, sagt auch Diljan Nikoltschev, Dozent an der Theologischen Fakultät der Universität Sofia. Allerdings, so gibt er zu bedenken, dürfe man dabei nicht übersehen, dass manche Vertreter der Heiligen Synode Ende 1940 gegen das Gesetz zum Schutz der Nation, das die Juden diskriminierte, wenig einzuwenden hatten.
»Auch heute sind die Beziehungen zwischen Juden und orthodoxen Christen gut«, sagt Stella Behar. Probleme und Konflikte gebe es nicht, sondern ein freundschaftliches Verhältnis. Im Nationalen Rat der Religiösen Gemeinden in Bulgarien arbeiteten die Spitzen beider Religionsgemeinschaften konstruktiv mit den Repräsentanten der anderen Konfessionen zusammen. Im vergangenen November wurde zum zweiten Mal das Fest der Religionen begangen, es stand unter dem Motto »Harmonie in Vielfalt«. »Auf diesem Fest präsentieren sich die Mitglieder der religiösen Gemeinden und lernen einander kennen. Misstrauen entsteht, wenn man sich nicht kennt«, sagt Behar.
distanz Diljan Nikoltschev sieht das Verhältnis zwischen orthodoxen Christen und Juden nüchterner. Es sei eher eine »Beziehung protokollarischer Art« als wirkliche Freundschaft, sagt er. Natürlich werde bei offiziellen Veranstaltungen wie den Jahrestagen des Holocaust ein feierlicher Ton angestimmt, ansonsten seien aber nur wenige Gemeinsamkeiten auszumachen. »Es gibt kaum Berührungspunkte.«
Anders als Griechenland und Mazedonien wurde Bulgarien zuletzt vom Flüchtlingsstrom eher umgangen, die Flüchtlingskrise stellt die sprichwörtliche Toleranz der Bulgaren dennoch auf ihre Probe. Vor allem aus nationalistischen Kreisen sind minderheitenfeindliche Töne unüberhörbar. Anfang Juli 2015 veranlasste dies den Nationalen Rat der Religiösen Gemeinden in Bulgarien zu seiner gemeinsamen Erklärung »Bulgarien – Beispiel für ethnische und religiöse Toleranz«.
Darin heißt es: »Wie sich historisch bereits bestätigt hat, nennt sich Bulgarien ein Staat des Geistes. Lasst uns mit gemeinsamen Anstrengungen unser Heimatland zu einer Gemeinschaft der Toleranz machen, in der Bulgaren, Türken, Roma, Armenier, Juden und alle anderen glücklich leben, in Freundschaft und bei gegenseitiger Achtung und Verständnis.«