Herr Eizenstat, vor genau 60 Jahren, am 10. September 1952, wurde das Luxemburger Abkommen unterzeichnet. Umfang und Wirkung der Vereinbarungen sind beispiellos.
Sie waren in der Tat geschichtlich etwas völlig Neues und aus zweierlei Gründen einmalig: Zum einen verpflichtete sich zum ersten Mal in der Geschichte ein besiegtes Land, Einzelpersonen eine Entschädigung zu zahlen – im Unterschied zu den Reparationsleistungen an Staaten in vorhergehenden Kriegen.
Und zum anderen?
Deutschland verhandelte mit einer nichtstaatlichen Organisation, der damals neu geschaffenen Claims Conference, die die jüdischen Opfer in der ganzen Welt vertrat. Die Verhandlungen führten jedoch nicht nur dazu, dass Eigentum zurückgegeben und Entschädigungen gezahlt wurden. Vielmehr integrierte Deutschland die Aufklärung über den Holocaust in sein Erziehungs- und Bildungssystem und entwickelte sich zu einem der verlässlichsten Freunde Israels in Europa. Das unterstreicht die Art und Weise, wie Deutschland mit seiner Vergangenheit umgeht.
Die Verhandlungen stießen aber auf deutscher wie auf jüdischer Seite auch auf Widerstand.
Ja, beide Seiten hatten zunächst – aus unterschiedlichen Gründen – Bedenken. In Westdeutschland fragte man sich: Können wir uns das überhaupt leisten? Und in Israel kritisierten vor allem Anhänger der Likud-Partei die Verhandlungen scharf, weil sie es unangemessen für die Opfer fanden, Geld »aus der Hand von Feinden« anzunehmen. Doch die Bedenken verschwanden schnell, nachdem das Programm einmal begonnen hatte.
Welche Bedeutung hat das Luxemburger Abkommen für die Schoa-Überlebenden bis heute?
Die vereinbarten Entschädigungsleistungen schützen viele der Empfänger vor Armut und sorgen bis zu einem gewissen Grad für ein positives Lebensumfeld. Viele Überlebende erhalten eine regelmäßige monatliche Rente auf Lebenszeit, sodass sie ihre Grundbedürfnisse einigermaßen erfüllen können.
Aber nicht nur die materielle Entschädigung ist maßgebend.
Nein, denn es ist ja völlig unmöglich, das Leiden zu quantifizieren, geschweige denn voll zu entschädigen. Menschenleben sind nicht aufzuwiegen. Bedeutsam für die Opfer ist deshalb vor allem auch die Geste der Anerkennung – das Bewusstsein, dass jemand die schrecklichen Umstände, die sie durchlebt und durchlitten haben, ernst nimmt. Mit zunehmendem Alter und der damit einhergehenden Gebrechlichkeit wird das Geld wichtiger, um den Überlebenden einen erträglichen Lebensabend zu sichern.
Gab es im Laufe der Jahre, in denen Sie für die Claims Conference die Verhandlungen führten, besonders schwierige Momente?
Verhandlungen sind immer schwierig! Aus meiner Sicht tat sich Deutschland besonders schwer mit der Entscheidung, Menschen aus Gebieten zu entschädigen, die nicht von den Nazis besetzt waren. Auch die Entschädigung von Menschen aus der früheren Sowjetunion und das Programm für häusliche Betreuung waren nicht leicht zu verhandeln.
Welche Verhandlungsergebnisse würden Sie als Durchbruch bezeichnen?
Ich denke, mehr als 60 Milliarden Dollar an Entschädigungsleistungen sprechen für sich! Besondere Verhandlungserfolge in jüngster Zeit waren die Angleichung der monatlichen Renten für die Menschen in west- und osteuropäischen Ländern, die häusliche Betreuung und die Entschädigung von 81.000 sogenannten Fluchtopfern aus der früheren Sowjetunion.
Gab es mitunter auch Rückschläge in den Verhandlungen?
Natürlich haben wir nicht immer das Maximum dessen erreicht, was wir wollten. Dennoch haben sich die Ergebnisse ständig verbessert. Wir hätten uns zwar manchmal gewünscht, dass wir mehr erreichen und uns schneller einigen, aber das würde ich nicht als Rückschlag bezeichnen. Das ist einfach Teil des Verhandlungsprozesses.
Was steht für künftige Verhandlungen auf der Agenda?
Eines unserer zentralen Anliegen ist die Entschädigung von sogenannten Child Survivors, also von Überlebenden, die im Jahre 1928 oder später geboren sind und die tiefe emotionale Narben davongetragen haben. Ein anderes Ziel ist die langfristige Sicherung des Programms der häuslichen Pflege und Betreuung.
Die Verhandlungspartner von heute sind andere als vor 60 Jahren. Welchen Eindruck haben Sie von der neuen Generation?
Ich möchte Ihnen mit einem Beispiel antworten. Voriges Jahr wurde mir ein Bericht überreicht, der sich mit dem deutschen Außenministerium im Zweiten Weltkrieg befasste. Der Bericht kam einer Anklageschrift gleich, der Details offenbarte wie den Antrag auf Kostenerstattung für eine Reise 1941, deren Zweck als »Liquidation der Juden in Belgrad« angegeben wurde. Die Tatsache, dass die neue Generation dies aus eigenem Antrieb untersucht hat, ist wahrhaft bemerkenswert.
Inwiefern?
Ich sagte vor einiger Zeit zu meinem Verhandlungspartner Werner Gatzer, wie sehr mich berührt, dass sich die neue Generation immer noch in der Verantwortung fühlt, den Opfern zu helfen, selbst in einer Zeit, in der Europa in einer finanziellen Krise steckt. Ich habe schon mit vielen Staaten debattiert, aber die Verhandlungen mit Deutschland sind immer eine wahre Inspiration.
Mit dem Verhandlungsführer der Jewish Claims Conference und Berater der amerikanischen Regierung sprach Daniela Breitbart.