Die Entscheidung über den wichtigsten Posten der EU ist gefallen: Jean-Claude Juncker wurde am Dienstag im Europäischen Parlament mit 422 Stimmen und 250 Gegenstimmen zum Kommissionspräsidenten gewählt. Sein Ex-Kontrahent, Parlamentspräsident Martin Schulz, gratulierte dem Politiker aus Luxemburg anlässlich des Ergebnisses nicht ohne Häme: »Ohne Gegner kein eigenes Profil«. Doch wie beurteilen jüdische Luxemburger ihren früheren Premier?
Für einen Konservativen ist Juncker, so sieht es der Präsident des Jüdischen Konsistoriums, Claude Marx, in einigen Bereichen erstaunlich progressiv: »Seine Einstellung in Sachen Abtreibung, Empfängnisverhütung und gleichgeschlechtliche Ehe sind bemerkenswert für den Vorsitzenden einer christlich-sozialen Volkspartei.«
vertrauen 18 Jahre, seit 1995 bis zum vergangenen Herbst, war Juncker Premierminister Luxemburgs. Obgleich er die konservativ-christliche Partei modernisiert und sich für einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten starkgemacht hatte, gilt er gerade Linken als Verkörperung des »CSV-Staats«. Dennoch ging die christlich-soziale Volkspartei auch aus den letzten Parlamentswahlen in Luxemburg als stärkste Partei hervor, betont Claude Marx.
Wenn auch der Eindruck einer gewissen politischen Unbeweglichkeit und vor allem die in die Kritik geratene Leitung des Geheimdienstes dazu geführt hätten, dass die Regierung Juncker 2013 zurücktreten musste, »so darf man nicht vergessen, dass Junckers CSV die Mehrheitspartei im Parlament bleibt, was einen mithin vermuten lässt, dass ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung ihm vertraut«, sagt Marx.
Obwohl seine Popularität im eigenen Land gesunken ist, bleibt Juncker im kleinen Großherzogtum Luxemburg eine markante Persönlichkeit – bekannt für seine Ironie, seine Nonchalance und seinen bestimmenden Stil. Dass der Premier ein starker Raucher ist und gern trinkt, schien ihm in Luxemburg bisher niemand zu verübeln. Doch in den vergangenen Monaten versuchten andere, diesen Lebensstil gegen ihn ins Feld zu führen, um Junckers Weg an die Spitze der EU-Kommission aufzuhalten.
Zweiter Weltkrieg Juncker-Bashing Als der zähe EU-Wahlkampf gegen den sozialdemokratischen Kontrahenten Martin Schulz beendet war und klar wurde, dass die Europäische Volkspartei (EVP) den Kommissionspräsidenten nominieren würde, ging es erst richtig mit dem Juncker-Bashing los. Der britische Premier Cameron und Ungarns Regierungschef Orbán wetterten gegen ihn; wenig später setzte die Boulevardzeitung »Sun« nach: Junckers Vater sei ein Kollaborateur gewesen und habe für Hitler im Zweiten Weltkrieg gekämpft; sein Schwiegervater sei ein Nazi-Sympathisant, der Juden in seinem Heimatland verfolgt habe.
Starker Tobak und einseitige Meinungsmache, die Juden in Luxemburg überwiegend ungerechtfertigt finden. Claude Marx verurteilt die Kampagne aufs Schärfste: »Die Art und Weise der britischen Presse, Vorwürfe gegen die Politik Junckers zu äußern, ist ordinär und inakzeptabel. Selbst wenn sein Verhalten gelegentlich zur Kritik veranlasst hat, sind die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen im Großen und Ganzen unberechtigt.« »Das war die Diskriminierung eines potenziellen Kandidaten, der Versuch, ihn politisch bloßzustellen«, meint auch der Präsident der Stiftung »Memoshoa«, Henri Juda. »Einem Sohn eines Nazis vorzuwerfen, dass der Vater Nazi war, wenn er es denn gewesen wäre, finde ich absolut unangebracht«, so Juda. Die Kampagne der britischen Presse bezeichnet er als »Schweinerei«.
Auch Laurent Moyse, ehemaliger Chefredakteur der französischsprachigen Ausgabe des »Luxemburger Worts«, »la voix«, findet die Anti-Juncker-Kampagne »unerhört«. Kritik sei legitim, man müsse nicht einverstanden sein mit Juncker. Aber dermaßen unter die Gürtellinie zu gehen, sei nicht haltbar. Wie gut ist Juncker in seiner Amtszeit auf die Interessen der jüdischen Gemeinschaft in Luxemburg eingegangen? »Juncker war sehr wachsam in Bezug auf die Sicherheit der jüdischen Gemeinschaft«, meint Claude Marx.
Enthüllungen Doch die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit hat in Luxemburg gerade erst begonnen. Nach den Enthüllungen von Historikern über die Verantwortung der Verwaltungskommission, der »Kollaboration« der Übergangsregierung Luxemburgs im Zweiten Weltkrieg, hatte Juncker während seiner Amtszeit als Premier eine Historikerkommission ins Leben gerufen. Die Schlussfolgerungen der Kommission müssten Ende 2014 publiziert werden. Anhand dieses Berichts könnte eine Verantwortung des Luxemburger Staats zu dieser Zeit anerkannt werden und letztendlich zu einer offiziellen Entschuldigung wie etwa in Belgien führen, erläutert Claude Marx.
Zudem hatte Juncker als Premier bei einem Treffen mit den Mitgliedern des Konsistoriums 2013 den ehemaligen sozialistischen Abgeordneten Ben Fayot beauftragt, eine Stiftung zum Gedenken an die Schoa ins Leben zu rufen. »Diese Stiftung zum Gedenken an die Luxemburger Opfer der Schoa, die dem Beispiel in Frankreich folgt, ist sehr wichtig für die jüdische Gemeinschaft in Luxemburg – vor allem für pädagogische Zwecke«, meint Marx.
Auch Henri Juda begrüßt das Zustandekommen der Kommission, allerdings sei ein erster Bericht bereits 2009 abgegeben worden. Juncker habe bis 2013, dem Ende seiner Regierungszeit, diesen Bericht nie in den Regierungsrat gebracht, moniert Juda. In seiner Regierungszeit sei kein besonderes politisches Interesse auszumachen gewesen, was die Aufarbeitung der Vergangenheit in Luxemburg betreffe, meint Juda deshalb.
Aufarbeitung Laurent Moyse sieht das anders, Junckers Einsetzen einer Historikerkommission habe seiner Meinung nach gezeigt, »dass er das Thema nicht unter den Teppich gekehrt hat«. Die Aufarbeitung hätte nur früher thematisiert werden können. Die Frage einer offiziellen Entschuldigung der Luxemburger Regierung stellt sich für Moyse noch immer – »auch über die Person Junckers hinaus«.
Kaum jemand scheint an der Eignung des Luxemburgers für das wichtigste EU-Amt zu zweifeln. »Seine Kompetenzen als Gouverneur Luxemburgs bei der Weltbank und als Chef der Euro-Gruppe kann man nicht infrage stellen. Die Summe dessen lässt vermuten, dass er eine kompetente Person ist, um die Europäische Kommission zu leiten«, meint Claude Marx.
»Man hätte kaum einen erfahreneren Politiker finden können, der sich so gut in den Irrwegen des politischen Brüssel auskennt«, ist sich auch Henri Juda sicher. Juncker sei »ein Meister der Kompromisse und des Taktierens«. Das Bonmot der »europäischen Erfahrung«, das Kanzlerin Angela Merkel gestreut hatte, um der Kontroverse um Juncker ein Ende zu setzen, greift auch Laurent Moyse auf. Juncker habe »große europäische Erfahrung«. Er kenne die institutionelle Problematik der EU sehr gut und sei ausreichend positioniert, um sich an der Spitze der Kommission zu behaupten.