»Tag und Nacht und ganz unausgesetzt bin ich im Bann des Fürchterlichen, was mit Juden geschieht im ewiglich verfluchten Zuchthaus Europa«, notierte Karl Wolfskehl 1943 im neuseeländischen Exil, als ihn immer mehr Nachrichten von der systematischen Vernichtung des europäischen Judentums erreichten. Der heute nahezu vergessene Dichter, Journalist und Übersetzer war 1938 nach Neuseeland geflüchtet – ans andere Ende der Welt.
Karl wurde am 17. September 1869 als Sohn des Bankiers Otto Wolfskehl und seiner Frau Paula in Darmstadt geboren. Die gutsituierte Familie gehörte dem liberalen deutschen Judentum an. Nach dem Abitur studierte er Germanistik, Philosophie und Geschichte und promovierte 1893 über ein germanisch-mythologisches Thema, wobei er in seinem beigefügten Lebenslauf ausdrücklich vermerkt: »Ich, Karl Wolfskehl, Verfasser dieser Dissertation, bin Jude.« Schon früh fühlte er sich dem Dichter Stefan George verbunden und publizierte erste Texte in dessen Literaturzeitschrift »Blätter für die Kunst«.
1898 heiratete Karl Wolfskehl Johanna (Hanna) de Haan und übersiedelte nach München. Das väterliche Vermögen erlaubte dem Paar ein sorgenfreies Leben in der Schwabinger Bohème. Wolfskehl konnte sich ausgiebig seiner Leidenschaft, dem Büchersammeln, widmen; im Erdgeschoss seines Hauses befanden sich eine überquellende Bibliothek mit wertvollen Werken aus dem Barock und der Romantik, deutsche Klassiker, hebräisch-deutsche Gebetbücher aber auch Werke zum Thema Antisemitismus und Zionismus.
Wolfskehls literarisches Schaffen kreiste um biblische Motive und nationales Deutschtum sowie jüdische Überlieferung. In den »Blättern für Kunst« vertrat er die Vorstellung von einem »neuen Priestertum« und sprach dem Zirkel »Geheimes Deutschland« seines Vorbilds Stefan George einen geistigen Führungsanspruch zu. Gemeinsam gaben sie die erfolgreiche dreibändige Anthologie »Deutsche Dichtung« heraus, mit den Bänden »Jean Paul«, »Goethe« und »Das Jahrhundert Goethes«.
Wolfskehls literarisches Schaffen kreiste um biblische Motive und nationales Deutschtum sowie jüdische Überlieferung.
Karl Wolfskehl begrüßte den Ausbruch des Ersten Weltkrieges und meldete sich als Freiwilliger – wurde aber wegen seiner Sehschwäche nicht genommen. Erst gegen Ende des Krieges setzte eine Umkehr in seinem Denken ein. »Uns hat der schöne Schein geäfft – Auch dieser Krieg ist ein Geschäft«, dichtet er.
»Auch das Verhältnis zu Stefan George wandelte sich grundlegend«, schreibt Wolfskehls Biograf Friedrich Voit. Im Sommer 1919 verzogen Karl, seine Frau Hanna und die beiden Töchter auf ihr Landgut in Kiechlinsbergen (Baden), wo auch die Bibliothek untergebracht wurde. Durch die einsetzende Weltwirtschaftskrise verlor der Dichter sein Vermögen und musste nun seinen Lebensunterhalt verdienen. Wolfskehl schrieb für die Feuilletons verschiedener Zeitungen, wie etwa die »Münchner Neueste Nachrichten« oder die »Frankfurter Zeitung« und arbeitete als Übersetzer.
FLUCHT Schon seit Kriegsende hatte Wolfskehl den Wunsch, Deutschland zumindest zeitweise zu verlassen. Er unternahm längere Reisen nach Italien und in die Schweiz, kehrte aber immer wieder in seine Münchner Wohnung zurück. Am 28. Februar 1933, am Morgen nach dem Reichstagsbrand, flüchtete Karl Wolfskehl in die Schweiz, wo er bis 1935 lebte. Seine Familie blieb in Deutschland, da seine Frau Hanna als »Arierin« mit ihren beiden christlich erzogenen Töchtern zumindest geduldet war.
Bereits 1934 hatte Wolfskehl auf Vermittlung von Martin Buber im Schocken Verlag Berlin den Gedichtband »Die Stimme spricht« publiziert. Die Verse kreisen um die jüdische Herkunftsvergessenheit und die Rückbesinnung auf die Tradition. »Bindet, bindet euch ans Wort! Findet endlich euer Wort!«, heißt es etwa in dem Gedicht »Die Stimme spricht am Seder«. Nach Ansicht der Kulturwissenschaftlerin Caroline Jessen wurde der Band »zu einem der populärsten und wichtigsten Lyrikbände der deutsch-jüdischen Literaturszene«.
Der Verleger Salman Schocken bot dem mittellosen Dichter an, seine Bibliothek zu kaufen.
Mitte der 30er-Jahre verlegte Wolfskehl seinen Lebensmittelpunkt nach Italien, dem geliebten Land, dem er schon öfters längere Reisen abgestattet hatte. Doch die faschistische Regierung brachte den deutschen Juden immer mehr in Bedrängnis. In dieser Zeit traf sich Wolfskehl mit Salman Schocken: Der Verleger bot dem mittellosen Dichter an, seine Bibliothek zu kaufen. Nach langen Verhandlungen erwarb Schocken die Sammlung für 20.000 Reichsmark und verpflichtete sich, Wolfskehl eine monatliche Leibrente zu zahlen.
Karl Wolfskehl hatte schon mehrfach mit dem Gedanken gespielt, Europa zu verlassen. Die Annäherung zwischen Hitler und Mussolini, die mit einem auch in Italien militanter werdenden Antisemitismus verbunden war, bestärkten ihn, nach Neuseeland zu flüchten. Gleichwohl hatte er nur romantische Südseevorstellungen von dem Land, in dem »seltsame Vögel, wie der Kiwi und der Kea« sowie eine »Urbevölkerung mit einer freilich vergangenen Kultur voll seltsamster eigenwilligster Schönheit« lebten.
ÜBERSEE Mit einem Touristenvisum ging Karl Wolfskehl mit seiner Sekretärin und heimlichen Lebensgefährtin Margot Ruben am 20. Mai 1938 in Marseille an Bord des Überseedampfer »Strathnaver«. Die Reise ins neuseeländische Auckland dauerte sechs Wochen. Dort bezog das Paar eine kleine Wohnung. »Ich habe ein kleines Schneckenhaus in südlichem, durch die hiesige Regenfülle zu üppigem Prangen aufgesäugten Gartenidyll, und M. R. sorgt fürs Schriftliche so auch für alle häuslichen Necessitäten«, schrieb er im September 1938 an einen Freund in Europa.
Wolfskehl beantragte eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung. Gegenüber den neuseeländischen Behörden verwies er auf Einkünfte aus Übersee, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestreiten könne. Zudem setzte sich Thomas Mann für seinen Kollegen ein. Im Januar 1939 erhielten Wolfskehl und seine Lebensgefährtin Margot Ruben das ersehnte »Residence Permit«. Margot, die er aufgrund des großen Altersunterschieds als seine Nichte vorstellte, gab nachmittags Lateinkurse, um ihr schmales Budget aufzubessern. Am Vormittag las sie Wolfskehl vor, sein Augenleiden hatte sich verschlimmert, sodass er kaum mehr lesen konnte, tippte seine Manuskripte und seine Briefe.
In einem Brief schrieb Wolfskehl: »Das tragische Erlebnis, mein Leben genauso durchzitternd wie das Schaffen, heißt Hiob.«
In dieser Zeit entstand der Lyrik-Zyklus »Mittelmeer oder die fünf Fenster« mit seinem bekannten Gedicht »Feigenbaum«. Ein solcher stand im Garten seines Hauses, »ein Bruder im Exil«, der ihn an seine mediterrane »Wahlheimat« Italien erinnerte. Danach verfasste er die VersSammlung »Hiob oder die vier Spiegel«. In einem Brief schrieb Wolfskehl dazu: »Das tragische Erlebnis, mein Leben genauso durchzitternd wie das Schaffen, heißt Hiob.«
Seine Werke wurden erst posthum veröffentlicht. Auch die umfangreiche Korrespondenz mit Weggefährten und Freunden darunter Prominenten wie etwa Leo Baeck, Martin Buber oder Thomas Mann erschien erst nach seinem Tod. Die Briefe waren für ihn Gesprächspartner: »Kam der Brief aus der Welt, so wurde bei dessen Vorlesen die Gestalt der Schreiber aufgerufen, ihr Wesen geschildert und Anekdoten berichtet«, notierte Margot Ruben. »Mit großen, erregten Schritten und wie im Fieber ging er im Zimmer auf und ab, stundenlang entrückt.«
KRIEGSENDE Nach dem Krieg konnte er wieder Kontakt mit Deutschland aufnehmen. Dass sein Bruder bereits 1943 umkam, hatte er schon früher erfahren. Obwohl er mit seiner Ehefrau schon viele Jahrzehnte nicht mehr zusammengelebt hatte, traf ihn ihr Tod im März 1946 bis ins Mark. »Ihr Herz war meine einzige Heimat. Jetzt habe ich keine mehr«, schrieb er. Wenngleich Wolfskehl mit dem Gedanken gespielt hatte, nach Europa zurückzukehren, verwarf er nun diese Option. »Mit Deutschland ist es auch für mich Ur-Rheinländer vorbei. Das stärkste Band riss«, teilte er einer Freundin mit.
Am 12. Juli 1946 wurde Karl Wolfkehls Antrag auf die neuseeländische Staatsbürgerschaft stattgegeben. Zu dieser Zeit war die Gesundheit des Mittsiebzigers schon schwer angeschlagen, eine Lungenentzündung und eine Darmkrankheit fesselten ihn ans Bett. Ein Herzanfall folgte, sodass Karl Wolfskehl am 30. Juni 1948 verstarb. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof von Auckland beigesetzt, auf seinem Grabstein steht neben seinem Namen in lateinischen und hebräischen Buchstaben »Exul Poeta« (verbannter Dichter).
Nach Wolfskehls Tod ging Margot Ruben eine Ehe ein. Auch wenn sie sich schon vor Jahren – zumindest räumlich – von ihrem langjährigen Lebensgefährten getrennt hatte, blieb sie ihm stets eng verbunden. Sie widmete fortan ihr Leben ganz der Sicherung und Herausgabe von Wolfskehls Werken.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehörte Wolfskehl zu den bekanntesten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum.
In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gehörte Wolfskehl zu den bekanntesten Schriftsteller im deutschsprachigen Raum. Heute ist sein Name selbst in gebildeten Kreisen kein Begriff mehr, sein lyrisches Werk nahezu vergessen. Lediglich sein umfangreicher »Briefwechsel aus Neuseeland 1938–1948« hielt zeitweise die Erinnerung an ihn wach. Nach Ansicht seines Biografen, des Literaturwissenschaftlers Friedrich Voit, sind seine Gedichte und Briefe jedoch »ein einzigartiger Beitrag zur deutsch-sprachigen Exilliteratur«.
Es ist zu wünschen, dass Karl Wolfskehl anlässlich seines 150. Geburtstages neu entdeckt wird. Möge sich sein Wunsch erfüllen, den er bei seiner Ankunft in Neuseeland äußerte: »Mein Ruhm endet im Hafen von Auckland, aber er beginnt auch im Hafen von Auckland.«