Am Tag als die Mauer fiel, wusste ich, dass die DDR, in der ich bis dahin 34 Jahre gelebt hatte, Geschichte war. Wie stark dies mein Leben neu bestimmen würde, ahnte ich noch nicht.
Einen Monat später war ich in New York. Als Musiker war es immer mein Traum gewesen, dort zu sein, und es war das westlichste Lebensgefühl, das ich mir vorstellen konnte, wohin nun alles trieb.
Auf dem Time Square sah ich eine riesige Leuchtschrift für Chanukka, die mitten in der üblichen Werbung blinkte. Selbstverständlich, mitten im öffentlichsten Raum wurde an ein jüdisches Fest erinnert, dessen Namen ich nur aus der geschlossenen Wohnung meiner Mutter kannte.
Für mich war es, als würde ein Geheimnis preisgegeben. Ich kannte noch kaum die Bedeutung, aber die Tatsache des für alle weit sichtbaren, deutlichen Zeichens, hier wird an Juden gedacht, war schockierend.
Die Stimme hallte in Hebräisch
Kurz danach war ich mit meinem amerikanischen Freund in einer Synagoge. Der Rabbi sammelte die vielen, lärmenden Kinder um sich, sang mit ihnen und betete. Noch nie hatte ich so viele jüdische Kinder zusammen gesehen, die auch noch fröhlich waren, an so einem Ort. Meine Erfahrungen aus der Berliner Synagoge Rykestraße waren qualvoll.
Mutter verdonnerte mich, einen Pudel aufzusetzen. Es gab in der DDR keine Kippot zu kaufen. Dann saßen wir in einer der hinteren, leeren Reihen, die Stimme hallte in Hebräisch, für mich unverständlich, durch den Raum. Immer wieder gab es dieses langgezogene, von mir schon angstvoll erwartete Wort, »Aaaauuuschschschwiiiitz«.
Es hatte sich mir ins Herz gebohrt, wie meine Tante mit thüringischer Färbung davon erzählte, also gemütlich im Klang, wie sie nackt vor Dr. Mengele stand und weiterleben durfte. Mutter war es peinlich, weil Tante Fofi, wie wir sie nannten, nur »Opfer des Faschismus«-Rente bekam, Mutter dagegen die »Kämpfer«-Rente. Das war Mutters Hin und Her, erst viel später lernte ich dafür das Wort, Trauma.
»Bleibst du jetzt hier?«
Als junger Musiker wollte ich nicht mehr über meine Jüdischkeit nachdenken. Ich wollte Spaß, Erfolg, Frauen. Jude sein war geheim, unausgesprochen, belastend, also ganz das Gegenteil.
In New York traf ich mich mit meinem Onkel. Der ehemalige Berliner hatte sich nach dem Krieg, der Nazi-Hölle entkommen, eine neue Heimat aufgebaut, und er fragte mich als Erstes ganz selbstverständlich, »Bleibst du jetzt hier?«. Aber ich wollte mich nicht als Künstler aufgeben und in den USA ein anderes Leben aufbauen.
In diesem Augenblick begann alles zu bröckeln. Es war nur der Beginn eines langen, schwierigen, inneren Prozesses, der mich zu mehr Jüdischkeit führte. Ich bezahlte mit größerer, innerlicher Trennung von meinen Eltern. Bald darauf fuhr ich das erste Mal nach Israel, wo ich mich im Kibbuz als Jude unter lauter Juden wiederfand, was mir half, eine größere Selbstverständlichkeit zu finden.
Das jüdische Leben
Ich ließ mich später beschneiden, und mit jedem dieser Schritte ließ ich das Schattendasein, das Trauma meiner Eltern, ihre dürftigen, traurigen Erklärungen, ihren keine Abweichung duldenden Stalinismus immer mehr hinter mir.
Inzwischen lebe ich mit meinen Kindern das jüdische Leben, so wie ich es mir erwünscht hätte, wenn ich eine Ahnung davon gehabt hätte. An jedem Schabbat, wenn wir zusammensitzen, wenn die warmen Brote auf dem Tisch liegen, wenn die Kerzen angezündet sind, wenn wir alle zusammen das »Schalom Alechem« singen.