Noch bevor »Dr. Ruth« den Besucher in ihre Wohnung im nördlichen Manhattan lässt, spricht sie eine Warnung aus. Viel Zeit habe sie nicht, ihr Terminkalender sei dicht getaktet. Man soll es sich nicht zu gemütlich machen und sich die Fragen gut überlegen. Lange plaudern könne sie nicht.
Und so wird das Gespräch auch ständig unterbrochen. Pierre, der langjährige Assistent der berühmtesten Sex-Beraterin Amerikas, ruft im Lauf der Stunde bestimmt fünfmal an: Wann sie im Radio-Studio sein könne, ob sie Zeit für einen Vortrag vor Studenten habe, ob sie für die Lesung ihres jüngsten Buches nach Los Angeles fliegen könne, und: Sie habe eine Einladung erhalten zu einem Bankett im Jüdischen Museum …
Ihre Eltern schickten sie 1938 mit einem Kindertransport in die Schweiz.
Dr. Ruth Westheimer wird am Sonntag 95, doch sie zeigt noch keine Anzeichen, dass sie bereit ist, einen Gang zurückzuschalten. Das 1,40 Meter kleine Energiebündel scheint geladener zu sein als eh und je. Stillzustehen, das wäre für sie undenkbar.
Diese tiefe Rastlosigkeit trägt Ruth Westheimer bereits ein Leben lang in sich. In dem Dokumentarfilm Fragen Sie Dr. Ruth aus dem Jahr 2019 erinnert sich ein Kindheitsfreund daran, dass sie schon mit elf Jahren so war. »Es war immer etwas los mit ihr.«
Das war im Jahr 1939, die beiden waren zusammen in einem Kinderheim in Wengen in der Schweiz untergebracht. Ruth Westheimer, die damals Karola Siegel hieß, war mit dem Kindertransport aus Frankfurt am Main hierhergekommen. Ihre Eltern hatte sie nicht mehr gesehen, sie waren im November 1938, einen Tag nach der Pogromnacht, von den Nazis abtransportiert worden.
Immerhin gab es noch Briefe. Bis 1942. Dann hörte sie nichts mehr. Erst viele Jahre später erfuhr sie, dass ihr Vater in Auschwitz ermordet worden war. Das Schicksal ihrer Mutter ist bis heute unbekannt. In der Datenbank der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ist lediglich der Eintrag »verschollen« zu finden.
HOFFEN Ruth Westheimer hat lange Zeit gehofft, eines Tages mit ihren Eltern wieder vereint zu werden. Als sie 1947 in Palästina ihren deutschen Namen ablegte, wählte sie ihren Mittelnamen »Ruth« als Vornamen. Falls ihre Eltern sie suchen sollten – den Namen Ruth würden sie schon erkennen.
So hat die Rastlosigkeit und überschäumende Energie der Dr. Ruth ganz gewiss auch etwas mit jenen Jahren zu tun. Mit der Unerträglichkeit der Ungewissheit. Wenn sie nur in Bewegung blieb, musste sie nicht daran denken, dass sie nicht wusste, was mit den Eltern geschehen war. Dann musste sie nicht den Gedanken zulassen, dass sie sie vielleicht nie mehr wiedersehen würde.
Die Rastlosigkeit hat Dr. Ruth in ihrem Leben gute Dienste erwiesen. Ihre Biografie ist episch, und wenn sie darauf zurückschaut, kann sie selbst kaum glauben, was ihr alles widerfahren ist, seit sie mit zehn Jahren aus ihrer Heimat verjagt wurde. »Ich glaube, ich habe immer eine Verpflichtung verspürt, das meiste aus meinem Leben zu machen«, sagt sie. Kein ungewöhnliches Gefühl für eine Schoa-Überlebende.
Die kleine Karola Siegel aus Karlstadt am Main ist heute in den USA eine kulturelle Ikone. Ihr Markenname »Dr. Ruth« sagt jedem über 40 etwas. Sie geht im Weißen Haus ein und aus, seit Bill Clinton hat jeder Präsident sie empfangen – bis auf Donald Trump. Und bei großen gesellschaftlichen Anlässen des Landes wie den Oscar-Verleihungen ist sie Stammgast.
Dabei hat sie es auf Prominenz oder eine große Karriere eigentlich nie angelegt. Dr. Ruth hat eigentlich immer nur das gesehen, was direkt vor ihr lag. Aber wenn sich Gelegenheiten boten, ergriff sie diese beim Schopf.
Mit 19 Jahren, kaum in Palästina angekommen, meldete sich Ruth Siegel freiwillig bei der zionistischen Untergrundorganisation Hagana. Sie ließ sich zur Scharfschützin ausbilden, doch zum Einsatz kam sie nie. Bei einem Bombardement ihres Stützpunkts wurde sie schwer verletzt.
SORBONNE Nach der Gründung des Staates Israel im Mai 1948 zog Ruth in einen Kibbuz. Dort lernte sie ihren späteren ersten Ehemann David Bar-Haim kennen, dem sie zum Studium der Psychologie an die Sorbonne nach Paris folgte. Doch die Ehe hielt nur während der Pariser Zeit. Die junge Frau zog es nach Amerika, ihr Mann wollte zurück nach Israel.
Das Psychologiestudium war der erste Schritt auf dem Weg zur bekanntesten Sexualtherapeutin der Welt. In New York angekommen, lernte sie in einem jüdischen Skiklub Manfred Westheimer kennen, den sie später heiratete, und wurde Doktorandin an der Columbia University. Ihr Thema war das Verhütungsverhalten junger Frauen – in den 50er-Jahren noch eine überaus heikle Frage.
Die Forschungsarbeit führte sie zu »Planned Parenthood«, der wichtigsten Organisation in den Vereinigten Staaten, wenn es um Gesundheitsvorsorge für Frauen, Familien- und Sexualberatung geht. Bei dieser Arbeit entdeckte Dr. Ruth, dass Frauen ihr in den Gesprächen intime Dinge anvertrauten und sie ein Talent dazu hat, offen und einfühlsam mit ihnen zu reden. Bei Dr. Ruth gab es keine Tabus und keine Scham, von ihr gab es nie ein moralisches Urteil. »Was immer zwei Erwachsene unter Einverständnis im Schlafzimmer miteinander machen, verdient Respekt«, war ihr Wahlspruch.
Jeder amerikanische Präsident hat sie empfangen – nur nicht Donald Trump.
Während dieser Zeit entdeckte die Radio-Redakteurin Betty Elam Brauner Dr. Ruth als potenziellen Medienstar. Für Dr. Ruths Art, unvoreingenommen und offen über Sexualität zu reden, das glaubte Brauner ganz fest, müsse es einen riesigen Markt geben.
Brauner irrte sich nicht. Aus der Viertelstunde im Nachtprogramm, die Dr. Ruth zuerst zugeteilt bekam, wurde rasch eine Stunde, dann zwei. Bald war ihre Sendung Sexually Speaking die erfolgreichste des ganzen Senders und ein USA-weiter Kult.
BEFREIUNG Dr. Ruth hatte einen Nerv getroffen. Die sexuelle Befreiung der 60er- und 70er-Jahre hatte in den USA eine Gegenbewegung angestoßen. 1980 wurde der Republikaner Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt – nicht zuletzt mit der breiten Unterstützung der christlich-religiösen Rechten. Doch das Bedürfnis insbesondere von Frauen, sich nicht mehr klassischen Rollen zu fügen und ihre Sexualität besser zu verstehen und bewusster zu leben, ließ sich nicht mehr rückgängig machen.
So wird Dr. Ruth heute als feministische Ikone gesehen, auch wenn sie dieses Label gar nicht mag. Sie sprach über Verhütung und Abtreibung, als niemand sonst sich traute, die mächtigen evangelikalen Prediger zu provozieren.
Gleichzeitig wurde die kleine Frau auch zu einer Art Heldin der LGBTQ-Bewegung der USA. In ihren Sendungen wehrte sich Dr. Ruth vehement dagegen, insbesondere männliche Homosexuelle für den Ausbruch der AIDS-Epidemie verantwortlich zu machen. Stattdessen sprach sie sich lautstark für eine gesamtgesellschaftliche Bekämpfung der Krankheit inklusive würdiger medizinischer Versorgung für alle Betroffenen aus.
MANHATTAN Privat schuf sich Dr. Ruth indes all das, was sie als Flüchtlingskind während der NS-Zeit so schmerzlich missen musste. In Washington Heights im Norden von Manhattan, der einst weltweit größten Gemeinde deutscher Juden im Exil, hat sie eine permanente Heimat gefunden. Sie lebt seit ihrer Ankunft in New York in dieser Gegend, seit 1961 in derselben Wohnung, in der sie auch ihre Kinder großgezogen hat.
Dem Exodus der meisten deutschen Juden ab den 80er-Jahren aus diesem Viertel hat sie widerstanden. Unter der neuen Welle von Einwanderern, vorwiegend aus Lateinamerika, fühlt sie sich ebenso wohl wie unter ihren Landsleuten.
Mit Fred Westheimer war sie bis zu dessen Tod 1997 verheiratet. Im Lieblingspark des Paares, hoch oben über dem Hudson River, hat sie ihrem Fred mit einer Plakette eine Bank gewidmet. Bis heute spaziert sie oft dorthin, um den Blick zu genießen, den die beiden über viele Jahre gemeinsam in sich aufsogen.
Ansonsten ist sie ganz Familienmensch. Ihre vier Enkel, mittlerweile alle erwachsen, sind ihr Ein und Alles. Ihnen hat sie auch eine Version ihrer Lebensgeschichte in Bildern gewidmet, die es auf die Bestsellerliste für Kinderbücher geschafft hat.
Am Ende ist Dr. Ruth dann doch ins Reden gekommen und hat sich mehr Zeit genommen, als sie wollte. Auch, um ein wenig traurig zu sein, als sie auf ihre Eltern zu sprechen kommt. Doch Tränen gestattet sie sich nicht. »Das machen wir Jeckes nicht in der Öffentlichkeit«, sagt sie. Ob sie es je im Stillen getan hat, wissen nicht einmal ihre Kinder.