Dass Menschen ihren 100. Geburtstag feiern können, ist mittlerweile gar nicht mehr so selten – und so werden die meisten Jubilare auch nur mit einem Artikel in ihrer Lokalzeitung geehrt. Bei der österreichischen Jüdin Maria Simon war dies in diesen Wochen anders. In zahlreichen Publikationen wurde ihr bisheriges Leben gewürdigt. Denn neben ihrem hohen Alter lobten die Gratulanten auch Simons Verdienste als renommierte Sozialwissenschaftlerin, die unter anderem an der Universität von Chicago lehrte und die Sozialarbeit in Wien modernisierte.
An dem Tag, an dem Maria Dorothea Simon in Wien geboren wurde, endete in Frankreich die Zweite Schlacht an der Marne, die letzte Offensive der deutschen Wehrmacht im Ersten Weltkrieg. Einen Monat später dankte Kaiser Karl I. ab, und die österreichische Republik wurde gegründet. Frauen durften zum ersten Mal wählen, in den folgenden Jahren traten wichtige soziale Errungenschaften wie der Achtstundentag und die Sozialversicherung in Kraft. Doch davon dürften die Eltern der kleinen Maria an jenem 6. August des Jahres 1918 noch nichts geahnt haben.
maiglöckchen Maria Dorothea, genannt »Dorli«, wächst im ersten Bezirk, im Zentrum von Wien, auf. Sie ist ein unternehmungslustiges Kind, das seiner Mutter am dritten Geburtstag im Ferienort Bad Vöslau ausreißt, um in ein Süßigkeitengeschäft zu gehen. Als Maria Simon 14 Jahre alt ist, wird sie mit Antisemitismus konfrontiert. Ein anderes Mädchen erzählt ihr, berichtet Maria Simon später der »Freien Presse«, sie habe ein »Maiglöckchen-Kränzchen« gegründet – solche Klubs sind unter den Kindern jener Zeit sehr beliebt. Dorli dürfe aber nicht mitmachen, sagt die Mitschülerin, »wir haben einen Arierparagrafen«. Maria Simon gründet daraufhin mit vier jüdischen Klassenkameradinnen ein eigenes Kränzchen.
1934 wollen die Mädchen einen Skikurs besuchen, Marias Mutter ist davon nicht begeistert. Nur ein junger Mann habe ihr gefallen, erinnert sich die heute 100-Jährige, »das war Josef Simon, den ich später in England geheiratet habe«. Der Skikurs entpuppte sich als Tarnveranstaltung der sozialistischen Mitschüler-Organisation, die zu diesem Zeitpunkt schon verboten war. Dort sei sie politisiert worden, sagt Simon rückblickend.
1936 beendet die Wienerin ihre Ausbildung zur Kindergärtnerin, einen Arbeitsplatz findet sie allerdings nicht. Weil ihr Vater aus Böhmen stammte, waren die Simons tschechische Staatsbürger. So setzte Maria ihre Ausbildung in Prag fort, wo sie eine von der Rockefeller-Stiftung geförderte Schule für Sozial- und Gesundheitsfürsorge besuchte. Zum ersten Mal habe sie dort Demokratie erlebt, erinnert sie sich, umgehend trat sie der sozialistischen Jugend bei.
rückkehr Am 29. September 1938 wird das sogenannte Münchner Abkommen geschlossen, zwei Tage später marschiert die Wehrmacht im Sudetenland ein. Maria Simon besucht zu diesem Zeitpunkt Verwandte in London und kehrt nicht nach Prag zurück. Im Februar 1939 reist ihr Vater ebenfalls nach England, ihre Mutter kann sich allerdings nicht zur Emigration entschließen. Sie wird vermutlich 1941 in Travicni ermordet.
Maria Simon arbeitet zunächst unentgeltlich in einem Heim für kriegsgeschädigte Kinder, das von Anna Freud betrieben wird. Nach einiger Zeit führt sie dann aber ihr Studium fort und legt in Oxford ihr Diplom ab. Anschließend geht sie zur Royal Army, wo sie Kurse für die Soldaten abhält. In dieser Zeit trifft sie auch Josef Simon wieder, den sie 1944 heiratet.
Nach Kriegsende wird er nach Kopenhagen versetzt, wo im September 1945 das erste Kind des Paares geboren wird. Ihr Mann will jedoch unbedingt nach Österreich zurück – schweren Herzens zieht sie mit ihm zurück nach Wien, wo sie für die Amerikaner arbeitet und beginnt, Psychologie zu studieren. Sie promoviert. Das Paar hat vier Kinder. In Österreich veröffentlicht Simon mehrere Studien und Forschungsarbeiten, unter anderem über die Lebensbedingungen unverheirateter junger Mütter.
akademie Die Stadt Wien beruft sie schließlich zur Direktorin der heutigen Sozialakademie. Wie unhaltbar die Zustände in Heimen und Fürsorgeinstitutionen waren, wurde in Österreich erstmals in den 60er-Jahren thematisiert. Simon führt moderne Standards ein und bewirkt, dass die Ausbildung der Sozialarbeiterinnen verlängert wird.
1983 muss sie, nach Erreichen der Altersgrenze, in Rente gehen – gegen ihren Willen, wie sie 2013 der »Wiener Zeitung« erzählte; zehn Jahre länger hätte sie ihren Job durchaus machen können. Zu diesem Zeitpunkt ist sie 95 Jahre alt und immer noch sehr umtriebig, schreibt Fachartikel, arbeitet ehrenamtlich für den von ihr gegründeten Verein »HPE – Hilfe für psychisch Kranke, Verein der Angehörigen und Freunde«.
Ein Drittel ihres Lebens sei sie nun in Pension, sagt sie. »Es wäre doch furchtbar, wenn da nichts Wichtiges mehr passiert.« Maria Dorothea Simon wird wohl auch im nunmehrigen 101. Lebensjahr nach Kräften im Unruhestand bleiben.