Es war grau und ungemütlich am vergangenen Samstag. Wie jedes Jahr versammelten sich am sogenannten Tag der Legionäre lettische Kriegsveteranen und Rechtsextreme aus ganz Europa in der Altstadt von Riga und zogen nach einem Gottesdienst zum Freiheitsdenkmal.
Mehrere Teilnehmer trugen Uniform und zeigten Nazisymbole wie Hakenkreuz oder SS-Totenkopf. Auch das Symbol der »Identitären Bewegung« war zu sehen. Sie stimmten die lettische Nationalhymne an und erinnerten an den 16. März 1944, als die lettischen Divisionen in der deutschen Waffen-SS erstmals der Roten Armee gegenüberstanden.
Viele junge Männer hatten sich damals freiwillig gemeldet. »Wir, die alten Legionäre in den Reihen der deutschen Wehrmacht, versuchten, die russische Flut einzudämmen«, sagt ein alter Veteran. »Wir wollten keine zweite Okkupation.«
Zum ersten Mal hatte die Sowjetunion Lettland 1940 besetzt. Ein Jahr des blutigen Terrors begann.
Zum ersten Mal hatte die Sowjetunion Lettland 1940 besetzt. Ein Jahr des blutigen Terrors begann, Tausende Letten wurden ermordet oder nach Sibirien verschleppt. Als kurz darauf die deutsche Wehrmacht einmarschierte, empfingen viele Letten sie als Befreier. Für die lettischen Juden hingegen begann das Grauen. Während der Zeit der deutschen Besatzung wurden rund 70.000 lettische Juden ermordet.
Holocaust Einer der wenigen lettischen Schoa-Überlebenden ist der Historiker Margers Vestermanis. Er wurde zuerst im Rigaer Ghetto festgehalten, dann ins Konzentrationslager Kaiserwald und später ins KZ Dondangen deportiert. 1944 gelang ihm die Flucht, und er schloss sich einer prosowjetischen Partisaneneinheit an.
Er sei entsetzt gewesen, sagt der heute 94-Jährige, als nach Lettlands Unabhängigkeit 1991 die ehemaligen Legionäre erstmals in ihren Uniformen durch Rigas Altstadt marschierten.
Während der Besatzung wurden rund 70.000 lettische Juden ermordet.
»Wir nahmen an, es handele sich um eine SS-Demonstration, um die Verteidigung der Politik Hitlers oder Himmlers«, sagt Vestermanis. »Doch dann haben wir verstanden, dass es bei dem Marsch der ehemaligen lettischen Legionäre eigentlich um etwas anderes geht.« In der einstigen Sowjetrepublik Lettland hätten sie damit nach 50 Jahren Sozialismus gegen Moskaus Politik protestieren wollen. »Es ist ja praktisch aus jeder lettischen Familie ein Mann in die lettische Legion gezogen. Formell in die ›SS-Division‹ und formell ›freiwillig‹. Das bekamen die Familien später, in der Sowjetzeit, deutlich zu spüren.« Gemeinsam mit weiteren ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlingen und der jüdischen Gemeinde habe er sich damals an einer Gegendemo beteiligt.
rote armee Der »Marsch der Legionäre«, der 1991 als kleine Kundgebung begann, zog am Samstag mehr als 1000 Anhänger und Schaulustige aus allen drei ehemaligen baltischen Sowjetrepubliken und anderen europäischen Staaten an. Die wenigen heute noch lebenden einstigen Soldaten marschierten mit ihren Anhängern durch Riga und erinnerten daran, dass auch Männer aus Litauen und Estland gegen die Rote Armee gekämpft haben.
Die Legion wurde 1943 gegründet – nach den Pogromen von 1941, bei denen rund 26.000 Juden und Kommunisten ermordet wurden. Der lettische Politologe Nils Muiznieks erklärt, dass einige Legionäre sich tatsächlich aus freien Stücken die deutsche Uniform anzogen, die meisten aber einen Stellungsbefehl erhalten hätten. »Deutsche Soldaten zogen durch lettische Dörfer und sprachen die Männer zwischen 18 und 45 an: ›Willst du Russen töten? Wenn nicht, dann stecken wir dich ins Gefängnis.‹«
Der Historiker Margers Vestermanis sagt, es sei sehr wohl möglich, dass ein Teil derjenigen, die sich unter deutscher Führung an den Judenmorden im Juli und August 1941 in der lettischen Provinz beteiligt hätten, auch in die Legion gekommen seien. »Wie groß der Prozentsatz gewesen ist, lässt sich jedoch nicht feststellen.«
sowjetzeit Nach Kriegsende wurde Lettland Sowjetrepublik. Während die Kämpfer der Roten Armee im Sozialismus ausgezeichnet wurden, ächtete man die Familien der SS-Legionäre. Große Wohnungen, Studienplätze oder Aufstiegschancen blieben ihnen verwehrt.
Nach Lettlands Unabhängigkeit 1991 machte sich die nationalkonservative Vaterlands-Partei diese langjährige Demütigung zunutze. Sie wertete die Legionäre zu neuen Helden auf, gewann Wählerstimmen und bildete die Regierung.
Ab jetzt durften die ehemaligen Kämpfer der SS-Legion einmal im Jahr nach dem Gottesdienst in der Johanneskirche oder im Dom zum Lettischen Freiheitsdenkmal marschieren und Blumen »zum Gedenken an ihre gefallenen Kameraden« niederlegen. Anfang der 90er-Jahre stellten sich gar Minister neben einer SS-Fahne auf. Derartige politische Fehltritte nutzte Moskau, um Lettland im Westen als faschistische Hochburg zu diskreditieren.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der lettischen NS-Täter lassen Politik und Gesellschaft bis heute weitgehend vermissen.
Eine kritische Auseinandersetzung mit der Rolle der lettischen NS-Täter lassen Politik und Gesellschaft bis heute weitgehend vermissen, meint auch der Politologe Muiznieks. Wie sonst sei es zu verstehen, dass die ehemaligen Kämpfer der SS-Legion Jahr für Jahr zum Freiheitsdenkmal marschieren dürfen? »Es ist ein Unding, Hitler und Freiheit zusammenzubringen.«
Der »Marsch der Legionäre« wird seit Jahren international beobachtet und zieht neben Anhängern und Gegnern vor allem Journalisten an. Nachdem es am 16. März wiederholt zu Ausschreitungen kam, wurden die Marschierenden am vergangenen Samstag auf dem Weg zum Freiheitsdenkmal von Absperrgittern und Hunderten Polizisten flankiert. Eine Gegendemo in unmittelbarer Nähe zum Freiheitsdenkmal untersagten die Behörden kurzfristig.
Rund 50 Gegendemonstranten protestierten am Rande gegen die Kundgebung und verwiesen auf die von den SS-Soldaten begangenen Verbrechen. »Sie kämpften für Hitler« stand auf Plakaten, die den Teilnehmern des Gedenkmarschs entgegengehalten wurden, und: »Legion Waffen-SS ist eine kriminelle Organisation«.
Gegendemo Der Historiker Vestermanis bleibt der Gegendemo am 16. März seit Jahren fern, ebenso wie die Vereinigung der jüdischen ehemaligen Ghetto- und KZ-Häftlinge und die jüdische Gemeinde. Die Rolle der Gegendemonstranten haben seit einiger Zeit vor allem moskautreue Einwohner Lettlands übernommen.
Der 16. März zieht heute vor allem Nationalisten aus ganz Europa an.
Der 16. März ziehe heute vor allem Nationalisten aus ganz Europa an, sagt Vestermanis, »Veteranen gibt es ja kaum noch«. Diese Demonstration gegen die Politik Wladimir Putins werde mittlerweile vom »Nationalen Block« unterstützt, einer Partei, die mit nur acht Abgeordneten im Parlament sitzt und auf Stimmenfang geht. Dieses Jahr hat sie dafür gekämpft, dass der 16. März gesetzlicher Feiertag wird.
stolz Die Legion werde zu einer heldenhaften Vergangenheit hochgespielt, meint Vestermanis. »Die Leute proklamieren voller Stolz: ›Wir haben Mut bewiesen und gegen Russland gekämpft.‹«
Ruta Vaskevica wird diese Haltung jedoch niemals teilen können. Russische Soldaten haben ihr vor 75 Jahren das Leben gerettet. Sie kam als junges Mädchen ins Rigaer Ghetto, überstand jahrelange Zwangsarbeit, Hungermärsche und das Konzentrationslager Stutthof.
Immer wieder hatte sie es dem Zufall zu verdanken, dass sie nicht ermordet worden sei, sagt die heute 90-jährige Schoa-Überlebende. »Und dann wurden wir plötzlich von russischen Soldaten befreit. Es war wie ein Wunder!« Zwar wisse sie, dass die lettischen Legionäre mit ihrem Marsch vor allem gegen die Politik Russlands protestierten, sagt sie, »aber es ist doch klar, dass ich den Russen bis heute dankbar bin«.