Der klagende Ton des Widderhorns ist das Zeichen zum Aufbruch. Mehr als 10.000 junge Juden aus Israel und aller Welt gehen schweigend unter dem berüchtigten Tor mit dem Schriftzug »Arbeit macht frei« des ehemaligen KZ Auschwitz hindurch. Für die drei Kilometer bis zum früheren deutschen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau brauchen sie gut zwei Stunden.
Das Tempo dieses »Marsches der Lebenden« bestimmen nicht die Jungen, sondern die oft über 90 Jahre alten Schoa-Überlebenden. Manche der rund 500 Alten ziehen ihre Mantelärmel so hoch, dass die eintätowierte Nummer auf dem Arm sichtbar wird.
schweigen Seit nunmehr 25 Jahren kommen Juden am Jom Haschoa, dem Holocaust-Gedenktag, nach Polen, um an die Todesmärsche 1945 und an die sechs Millionen von den Nazis ermordeten europäischen Juden zu erinnern. Seit dem ersten Marsch im Jahr 1988 haben mehr als 150.000 Teenager und Studenten an dem insgesamt zweiwöchigen Programm teilgenommen, das auch vom israelischen Bildungsministerium getragen wird.
»Am Anfang stand die Idee, Jugendlichen vor Ort die Geschichte der Schoa näherzubringen«, erläutert Shmuel Rosenman. »In vielen jüdischen Familien haben Eltern und Großeltern nie darüber gesprochen«, so der 69-jährige Israeli. Er ist Vorsitzender der internationalen Organisation »Marsch der Lebenden«, die das Programm initiiert hat und mit durchführt. Dieses Schweigen zu durchbrechen sei eines der Anliegen der Organisatoren, sagt Rosenman. Es gehe aber auch um die Stärkung der jüdischen Identität und des Zugehörigkeitsgefühls zu Israel.
Der Marsch geriet aber auch immer wieder in die Kritik. Die starke Abschottung von polnischen Gleichaltrigen und das Verbot, sich in der Freizeit von der Gruppe zu entfernen und eine Stadt wie Warschau oder Krakau auf eigene Faust zu entdecken, führten weniger zu einem besseren Verständnis der jüdischen Geschichte in der Diaspora denn zu Vorurteilen gegen Polen, lautete der Vorwurf, der in den vergangenen Jahren manchmal erhoben wurde. Als eine Befragung der jungen Leute nach der Reise ergab, dass sie tatsächlich ein verzerrtes Bild von Polen gewonnen hatten, wurde das Programm abgeändert und eine Reihe attraktiver Reiseziele und Freizeitaktivitäten aufgenommen.
israel Nach einer Woche in Polen, in der nach Auschwitz weitere ehemalige NS-Konzentrations- und Vernichtungslager wie Majdanek und Treblinka, aber auch die ehemaligen Ghettos in Krakau und Warschau besucht werden, fahren viele der Jugendlichen in diesem Jahr weiter nach Israel. Dort feiern sie den Unabhängigkeitstag. Viele der Nicht-Israelis lernen dort erstmals Städte wie Tel Aviv und Jerusalem kennen, die Festung Masada, die Wüste Negev oder den See Kinneret.
In diesem Jahr werden die jungen Leute auch am 70. Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes 1943 teilnehmen. Mehrere Organisatoren haben mit Blick auf die vielen jüdischen Jugendlichen und Studenten im Land ein Programm vorbereitet, das weit über die offiziellen Gedenkveranstaltungen am 19. April hinausreicht: Konzerte, Fahrradtouren durch das ehemalige Ghetto, Filme zum Vorkriegs-Warschau und Stadtspaziergänge mit speziell geschulten Guides.
Zudem wird auch das neue Museum der Geschichte der polnischen Juden zum ersten Mal seine Pforten öffnen. Zwar wird die Hauptausstellung erst im nächsten Jahr zu sehen sein, doch allein schon die Architektur mit Wänden, die wie die Wellen des Roten Meeres zurückweichen, ist einen Besuch wert.