USA

Mann für Zukunftsfragen

Am 2. Juni leistete Eric Lander in Washington seinen Amtseid auf eine Ausgabe der Pirkej Awot (Sprüche der Väter) aus dem Jahr 1492. Foto: imago images/ZUMA Wire

Das Foto aus dem Jahr 1974 zeigt einen typischen Jugendlichen seiner Zeit. Auf einem Balkon in den Flatlands von Brooklyn steht ein langhaariger, schlaksiger Junge, der etwas ungelenk lächelt. Über seinem Lächeln, das eine Reihe recht gewaltiger Vorderzähne freilegt, zeichnen sich die Konturen eines pubertären Bartflaums ab. Der freundliche junge Mann hält mit beiden Händen einen Basketball fest und trägt eine karierte Wolljacke, wie sie damals als schick galt.

Eric Lander heißt der Junge auf dem Foto, zum Zeitpunkt der Aufnahme war er 17 Jahre alt – und bereits Gegenstand eines Artikels in der »New York Times«. Die Zeitung stellte den Jungen als »wohl klügstes Kind der Stadt« vor.

Das erste Mal in der Geschichte hat das Amt Kabinettsrang.

Seit Anfang Juni ist »das klügste Kind der Stadt« wissenschaftlicher Berater von US-Präsident Joe Biden – der erste im Kabinettsrang. Eric Lander ist Genetiker und Mathematiker, lässt seine Lehrstühle an der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology für sein neues Amt ruhen – und berät auch Papst Franziskus in Wissenschaftsfragen.

Eid Dass dieser Eric Lander, der am 2. Juni seinen Amtseid auf eine Ausgabe der Pirkej Awot (Sprüche der Väter) aus dem Jahr 1492 leistete, eine Sammlung ethischer Traktate und Teil der Mischna, etwas ganz Besonderes sein muss, fiel 1974 schon dem Lokalreporter auf, der den Teenager Eric besuchte.

Denn Anlass seiner Eloge auf einen Teenager war ein Preisgeld von 10.000 Dollar, das Eric in der Woche zuvor bei einem Wettbewerb zur Förderung wissenschaftlicher Talente gewonnen hatte. Davor hatte er die Silbermedaille bei der internationalen Mathematik-Olympiade für die USA geholt. Nebenbei erhielt Eric Preise bei Französischtests, spielte Klarinette, debattierte Verfassungsfragen, liebte Science-Fiction und seine Venusfliegenfalle namens Modo. Und er war fasziniert von der Zahl 17.

»Wenn Sie einen Bagel mit 17 Löchern haben«, dozierte Lander gegenüber dem Lokalreporter der Times, »und Sie wollen daraus eine Landkarte machen, die 17 Länder abbildet – jedes Land in einer anderen Farbe, und keine zwei Länder, die die gleiche Farbe haben, dürfen einander berühren: Wissen Sie, wie viele unterschiedliche Farben Sie mindestens brauchen?« »17 natürlich«, beantwortete er sogleich seine eigene Frage, ohne eine Reaktion seines Gegenübers abzuwarten.

Erinnerungen Dem verblüfften Reporter wurde dann sogleich ein weiteres Geheimnis anvertraut. »Bagel erinnern mich«, sagte der junge Eric Lander damals, »an Washington, als ich dort für die Westinghouse-Finals war (der Wissenschaftswettbewerb, den er mit seinem Referat über »Quasiperfekte Zahlen« gewann). Wir trafen da drei Mädchen aus Ohio, Kalifornien und Alabama, die noch nie in ihrem Leben Bagels mit Lachs gegessen hatten. Wir fanden ein Lokal, wo es das gab, und luden die Mädchen dahin ein. Das hat vier Dollar gekostet und war exorbitant teuer – aber wir fanden, dass es angemessen war, unsere Kultur populärer zu machen. Es war also genau richtig, sie einzuladen.« Eric betonte das Wort richtig und genoss die Erinnerungen sichtlich, so der Reporter damals.

Darüber hinaus erfuhr der Mann von der Times von Eric damals allerdings eher, dass sein jüngerer Bruder Arthur der wirklich tolle Typ sei. »Er ist viel besser in Sprachen als ich, er hat bereits drei Theaterstücke geschrieben, und er ist erst 15. Arthur lernt allein. Er hat sich drei Jahre lang selbst Deutsch beigebracht und vier Jahre Spanisch.« Und dann zeigt er dem Journalisten Arthurs Barmizwa-Bild und sagt, dass er abgesehen von seiner Klugheit auch ein richtig netter Kerl sei.

Zielstrebigkeit Diese Einblicke in die frühen Jahre von Eric Lander sagen eine Menge aus über den Menschen, seine Zielstrebigkeit, Bescheidenheit – und seine Verankerung in der Familie. Die brauchte er auch, war doch sein Vater Harold infolge einer Multiplen Sklerose gestorben, als Eric elf war. Wie der Vater war auch die Mutter Juristin, aber da es damals weniger berufliche Möglichkeiten für Frauen in der Rechtsbranche gab, unterrichtete sie als Lehrerin Sozialkunde.

»In unserer Nachbarschaft gab es keinen einzigen Wissenschaftler«, erzählte Lander kürzlich im erlauchten Kreis der »American Rhodes Scholars« amerikanischen Absolventen der britischen Oxford University. »Kaum jemand hatte überhaupt studiert.« Dass das bei ihm anders sein sollte, wusste Lander schon früh. Was aber niemand wissen konnte, war, dass dieser Teenager aus Brooklyn, der seinen jüdischen Stadtteil zum Zentrum der Mathematik machen wollte, einmal einer der weltweit bedeutendsten und produktiv­sten Wissenschaftler werden sollte.

Seine beiden Lehrstühle lässt er vorübergehend ruhen.

Der Mathematiker mit den beiden Biologielehrstühlen wurde in der wissenschaftlichen Literatur annähernd 500.000-mal zitiert – so viel wie kaum jemand. Dass er jetzt Direktor im Ministerrang der »Behörde für Wissenschafts- und Technologie-Politik« ist, zeigt sowohl den Stellenwert, den Forschung und Lehre für Joe Biden und dessen Politik haben, als auch den Respekt vor der Lebensleistung des heute 64-jährigen Lander.

Dabei sind Regierungsaufgaben Lander durchaus vertraut. Zwischen 2009 und 2017 stand er als Co-Chair dem President’s Council of Advisors on Science and Technology (PCAST) vor, einem Panel, das den Präsidenten beriet und sich aus den Spitzenkräften aus Forschung und Technologie zusammensetzte.

Zudem wurde Lander für seine Pionierrolle in allen entscheidenden Phasen der Entschlüsselung, des Verständnisses und der medizinischen Analysen und Umsetzungen des menschlichen Genoms berühmt und war zwischen 1990 und 2003 einer der Leiter des Human Genome Project.

Strategie In seinem Brief an Eric Lander, in dem er ihm sein neues Amt antrug, schrieb Präsident Joe Biden: »Ich bin davon überzeugt, dass es essenziell notwendig ist, unsere nationale Wissenschafts- und Technologiestrategie zu erneuern und zu stärken, damit wir in den kommenden 75 Jahren klar Kurs halten auf eine Zukunft, auf dass unsere Kinder und Enkel in einer gesünderen, sichereren, gerechteren, friedlicheren und wohlhabenderen Welt leben können. Dieser Kraftakt erfordert es, die besten Köpfe aus Forschung und Lehre, Medizin, Industrie und Regierung zusammenzubringen – und jene Barrieren niederzureißen, die zu häufig unseren Blick nach vorn verstellen, die Bedürfnisse, Interessen, Sorgen und Erwartungen der Amerikaner als unsere Priorität zu begreifen.«

Lander fasst seine Arbeit allerdings etwas anders und mit der ihm eigenen Bescheidenheit zusammen: »Ich liebe es, zu unterrichten. Und ich bin fest davon überzeugt, dass, egal, was ich in meiner wissenschaftlichen Karriere auch tun mag, die wichtigste Wirkung, die ich hinterlasse, sich durch meine Studenten äußert.«

Die Lehre muss er jetzt zumindest für eine Legislatur ruhen lassen. Umso mehr hat sich Lander Gedanken darüber gemacht, wie er den Wechsel ins Berateramt und speziell die Zeremonie der Amtseinführung mit Symbolen schmücken könnte, die ihm wichtig sind, und wie sich seine Haltung zu Leben und Wirken ausdrücken lässt. So rief er im Vorfeld der Vereidigung den Familienrat, bestehend aus seiner Frau Lori und den erwachsenen Kindern Jessica, Daniel und David, zusammen, um über Bücher und passende Quellen für die Amtseinführung nachzudenken, wie Lander dem »Religion News Service« sagte.

Lander ist für seine Pionierrolle in der Genomforschung bekannt.
Die Familie fühlt sich dem jüdischen Gedanken des Tikkun Olam, des Heilens der Welt, verpflichtet. Dieser Grundgedanke brachte sie auf die Mischna, die Textsammlung früher rabbinischer Debatten. Sie gingen der Frage nach, wie sich jüdische Gesetze mit dem Alltag in Übereinkunft bringen lassen. Und so landeten sie schließlich bei den Pirkej Awot, die einen Grundsatz von Landers persönlichen und beruflichen Überzeugungen enthält: »Es ist nicht vorgeschrieben, die Arbeit zu vollenden, aber genauso wenig sollte man dies unterlassen.«

ZUflucht Die Ausgabe der Pirkej Awot, die Lander für seinen Amtseid auswählte, wurde 1492 in Neapel veröffentlicht – zu einer Zeit, da Juden dort Zuflucht fanden, nachdem sie infolge der Inquisition Spanien verlassen mussten. Während der Zeremonie am 2. Juni sagte Lander, dass Forscher erst vor etwa zehn Jahren herausgefunden hätten, wie alt diese Ausgabe sei.

»Die Welt hat mit Intoleranz experimentiert, mit dem Blickwinkel, dass jeder so zu denken hat wie ich und seinen Glauben so zu praktizieren hat wie ich. Aber die Welt experimentierte 1492 auch mit Toleranz – und mit der Erkenntnis, dass wir eine Vielfalt an Menschen und Perspektiven haben. Ich finde, die Lehren von 1492 gelten auch heute noch: zusammenzustehen und unsere Diversität zu einer unglaublichen Bereicherung für den Fortschritt dieses Landes zu machen.«

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