Herr Vis, vor Kurzem nahm die Polizei in den Niederlanden 150 Fußballfans in Gewahrsam, weil sie in einem Zug antisemitische Parolen skandiert hatten. Welches Ausmaß hat das Problem?
Antisemitismus im Fußball gibt es hierzulande seit mehr als 40 Jahren. Man kann nicht von einem Einzelfall sprechen, es kommt regelmäßig vor. Jetzt wurde erstmals konsequent durchgegriffen, und das ist zu begrüßen. Es gibt da Leute, die rufen im Chor: »Hamas, Hamas, alle Juden ins Gas.« Das sind ganz normale, nette Leute, die haben einen ordentlichen Job, eine Familie, vielleicht ein Häuschen im Grünen. Und wenn es um Fußball geht, drehen sie ab und an durch. Offenbar ist es nach wie vor akzeptabel, dass man solche Sprüche gegen Juden in der Öffentlichkeit äußert, ohne sozial geächtet zu werden.
Sind das tiefsitzende Ressentiments oder ist es Teil einer Fankultur?
Es ist eine Mischung aus beidem. Auf der einen Seite gibt es einen tief verwurzelten Antisemitismus in unserer Gesellschaft. Aber auf der anderen Seite fühlen sich die Menschen in einem Stadion oder auf dem Weg dorthin als Teil einer großen Menschenmenge frei, Dinge zu sagen, die sie sonst nicht offen äußern würden. Das Problem ist, dass niemand widerspricht, dass niemand sagt: »Das kannst du doch nicht über Juden sagen, das gehört sich nicht.« Offenbar sind Juden in der Öffentlichkeit immer Freiwild. Man kann uns beleidigen und muss keine Konsequenzen fürchten.
Wie konnte es dazu kommen?
Die Klubs tragen einen Großteil der Schuld für diese Entwicklung. Sie haben nicht genug getan, um dem Antisemitismus im Fußball und unter den Fans entgegenzuwirken. Die Vereine handeln nur dann, wenn die Spieler auf dem Platz betroffen sind, wenn Gegenstände auf das Spielfeld geworfen werden oder wenn im Stadion ein Spieler rassistisch beleidigt wird. Dann ergreifen die Klubs oder auch der niederländische Fußballverband Maßnahmen. Aber es passiert selten etwas, wenn Fans antisemitische Parolen brüllen. Da ist man dann schnell bei dem berüchtigten Motto von 1972, als es nach dem Attentat bei den Olympischen Spielen in München hieß: »Die Spiele müssen weitergehen.«
Wie bewerten Sie generell die Reaktion der Behörden?
Es war gut, dass sie auf diese Weise eingeschritten sind. Wir erkennen an, dass die Behörden in letzter Zeit viel konsequenter vorgehen gegen antisemitische Hetze – nicht nur, wenn es um Fußballfans geht. Das hat mit dem Aufkommen von Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie zu tun, die seitdem nicht verschwunden sind, sondern sich in den Niederlanden weiter ausbreiten. Die Leute halten auch dann an ihren Meinungen fest, wenn sie noch so falsch und abwegig sind.
Warum ist das so?
Zum Teil liegt es daran, dass jüngere Menschen ihre Informationen überwiegend aus den sozialen Medien beziehen. Die sind unkontrolliert, ungefiltert und häufig auch falsch. Viele leben in ihrer Blase und glauben jetzt, dass es immer eine »alternative Wahrheit« gibt. Das bringt auch Schwierigkeiten für Lehrer mit sich, wenn sie über die Schoa unterrichten. Holocaust-Bildung zu vermitteln, ist nicht nur schwierig, weil manche Leute das Thema nicht mehr hören wollen. Es ist auch schwierig, weil die Schüler im Internet auf »alternative Quellen« stoßen, weil manche in die Klassenzimmer kommen und auf ihren Smartphones ganz andere Informationen zu diesem Thema finden als die, die ihnen ihr Lehrer gibt. Ein weiterer Grund ist vielleicht auch die reformistische Tradition in den Niederlanden. Seit Martin Luthers Diktum »Hier stehe ich, ich kann nicht anders« glauben viele hierzulande, dass es keine Grenzen für die Redefreiheit gibt. Jeder fühlt sich berechtigt, seine Ansichten zu äußern, alles darf offen gesagt werden, alles hat angeblich seine Berechtigung – auch wenn man andere Gruppen damit beleidigt.
Mit dem Generalsekretär des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden in den Niederlanden sprach Michael Thaidigsmann.