Heute gibt es Kinder in der Welt, die Harry Potter auf Jiddisch zu hören bekommen, noch vor Englisch!» Diese Tatsache ist es, die Arun Schaechter Viswanath und seiner Frau Tali ein Strahlen ins Gesicht zaubert. Und das zu Recht: Immerhin ist es dem heute 32-Jährigen zu verdanken, dass diese Aussage nicht mit einem Fragezeichen, sondern mit einem Ausrufezeichen endet.
Arun bringt die Leidenschaft für die jiddische Sprache mit, Tali die Liebe zur Harry-Potter-Buchreihe. Fügt man dieser Konstellation dann noch ein erstes gemeinsames Kind zu, lässt sich sehr schnell nachvollziehen, weshalb sich der junge Mann der Herausforderung gestellt hat, Harry Potter und der Stein der Weisen ins Jiddische zu übersetzen.
KLETTERSCHUHE Arun Schaechter Viswanath lebt mit seiner Familie in Washington Heights im nördlichen Teil Manhattans, aus geografischer Sicht direkt in New York City – und trotzdem spricht er, wie auch andere New Yorker, davon, «in die Stadt» zu fahren, wenn er die neun U-Bahnstationen Richtung Süden der Insel zurücklegt. Er kommt gerade aus dem IFC-Kino um die Ecke, in dem zurzeit eine Retrospektive des japanischen Animators Hayao Miyazaki läuft. An seinem Rucksack hängen Kletterschuhe – er will später noch zum Bouldern nach Harlem.
Auf die Bitte hin, sich in eigenen Worten vorzustellen, muss er kurz überlegen. Er bezeichne sich üblicherweise nicht als Jiddisch-Übersetzer, aber in diesem Fall wäre es wahrscheinlich angebracht. Ein typisches New Yorker Dilemma: die Selbstdefinition.
Es ist keine Ungewöhnlichkeit, dass Menschen hier neben ihren Vollzeitberufen noch weitere kleinere oder größere Projekte am Laufen haben, von Nebenjobs bis zu Kunstprojekten. Womit man sich selbst am meisten identifiziert und vorstellt, wird deshalb gern an Situationen angepasst. Normalerweise, erklärt Arun Schaechter Viswanath, würde er sich als jemand vorstellen, der bei Instagram arbeitet und Sprachen mag. Letzteres liegt bei ihm offenbar in der Familie.
Viswanaths Urgroßvater nahm 1908 an der legendären Czernowitzer Konferenz teil.
Sein Urgroßvater nahm 1908 an der legendären Czernowitzer Konferenz teil, die sich mit der Rolle der jiddischen Sprache beschäftigte. Sein Großvater war ein Jiddisch-Aktivist. Basierend auf dessen Arbeit brachte Aruns Mutter 2016 ein jiddisches Wörterbuch heraus, das der junge Mann bei seiner Arbeit an Harry Potter zur Hilfe nahm.
Zu Hause lernte Arun Schaechter Viswanath neben Jiddisch auch Tamil, die Muttersprache seines Vaters, der im Süden Indiens aufwuchs und im Laufe seines Lebens mehrere Sprachen lernte, darunter auch Jiddisch.
VENTIL Arun Schaechter Viswanath wusste schon immer, dass Jiddisch ein wichtiger Teil seines Lebens sein werde, aber er war lange unsicher, wie das aussehen würde. Ihm fehlte ein Ventil. Er half seiner Mutter bereits mit ihrem Wörterbuch und beschäftigte sich mit diversen Lektoraten, aber all das war nicht spannend genug. Er sei eben doch Analytiker, betont er immer wieder, und interessiere sich deshalb für all die Bausteine einer Sprache.
Vor allem das Thema «Register» spricht er immer wieder an, im Deutschen nennt man es Sprachebenen. Das sind die Unterschiede einer geschriebenen und gesprochenen Sprache, basierend auf sozialen oder kulturellen Kontexten. So unterscheiden sich beispielsweise Wortwahl und Grammatik, je nachdem, ob man mit seinem Chef spricht oder mit Freunden.
Im Alter von 13 Jahren griff Arun Schaechter Viswanath zu einem Band von Kurzgeschichten des jiddischen Schriftstellers Jizchok Leib Perez und musste mit Bestürzung feststellen, dass er kaum ein Wort verstand. Zwar konnte er fließend «häusliches» Jiddisch sprechen, was er mit einer Art Dialekt vergleicht, doch in der Welt der jiddischen Literatur war er verloren.
mühe Diese Erkenntnis machte ihm klar, dass es mehr Mühe brauchte, die Sprache später einmal stolz weiterzugeben. So begann er, aktiv und konsequent zu lernen und zu lesen – und legte damit den ersten metaphorischen Stein auf seinem Weg zum «Stein der Weisen».
Die starke Verwurzelung der jiddischen Sprache in seiner Familie sieht Schaechter Viswanath als etwas sehr Besonderes. Die einst sehr robuste jiddische Bewegung sei heutzutage ziemlich geschwächt. Die Sprache hänge weniger an Massen als an einzelnen Enthusiasten, die zurück zur Sprache ihrer Vorfahren wollen.
Das sei eine wundervolle Sache, betont er, aber es sei etwas Verlockendes, fast Zwingendes, sich noch in einer Kette der Jiddisch sprechenden Familie zu finden. So eine Familienkette kann allerdings auch Druck machen, sie kette einen an eine Verantwortung, denn man will ungern die Person sein, die die Kette unterbricht.
inspiration Mit Tali Adler fand Arun nicht nur ein weiteres wertvolles Glied für die Familienkette, sondern auch die Inspiration für seinen ganz persönlichen Beitrag zur Erhaltung und Verbreitung der jiddischen Sprache, nach der er so lange gesucht hat. Auch Tali sei der jiddischen Sprache überdurchschnittlich viel ausgesetzt gewesen, ihr Großvater war Oberrabbiner von Basel. Arun ist sich sicher, dass diese Gemeinsamkeit bei ihrem Kennenlernen von beiden Seiten wertgeschätzt wurde.
Tali war es schließlich, die ihm vor sechs Jahren vorschlug, Harry Potter zu übersetzen. Sie sei ein wirklich großer Fan der Buchreihe, unterstreicht Arun Schaechter Viswanath. Er selbst habe die Bücher zwar auch als Kind gelesen und fand sie gut, aber Tali kann sich wieder und wieder in den Geschichten von J.K. Rowling verlieren.
«Weißt du, was du tun solltest? Du solltest Harry Potter ins Jiddische übersetzen!», meinte sie eines Tages. Arun lehnte zuerst ab. Zum einen glaubte er nicht, dass er das Zeug hätte, eine professionelle Übersetzung eines so umfangreichen Romans zu zaubern. Und zum anderen stellte er sich die Frage, wer Harry Potter auf Jiddisch überhaupt brauche. Doch Tali beharrte auf der Idee, und nach einiger Überlegung kam er zu dem Entschluss, dass er wohl auf seine Frau hören sollte.
geldquelle Dass weder die Übersetzungs- noch die jiddische Literaturwelt eine große Geldquelle ist, war den beiden von Anfang an bewusst. Zwar wachsen noch immer Tausende Kinder mit Jiddisch auf, doch einen großen Markt für säkulare Literatur in dieser Sprache gibt es nicht. Genau dies spornte Arun Schaechter Viswanath an. Es sollte eine Welt geben, in der Harry Potter auf Jiddisch existiert. Es ist ihm wichtig, dass seine Kinder Zugang zum Jiddischen finden – die Harry-Potter-Bücher können Türen dafür öffnen. Harry Potter sei der Inbegriff spannender Jugendliteratur. Als Kind hätte er sich dies sehr gewünscht.
Mit diesem Wunsch schien er nicht allein zu sein. Nach Veröffentlichung seiner ersten Übersetzung Anfang 2020 – es war Harry Potter und der Stein der Weisen – kamen zu seiner Überraschung sogar einige orthodoxe Eltern auf ihn zu und kauften das Buch. Er lernte, dass ihre Kinder die Harry-Potter-Bücher bereits auf Englisch gelesen hatten und sich auf die jiddische Ausgabe freuten. «Ich war wirklich erstaunt, dass orthodoxe Kinder englische Bücher lesen – und dann auch noch Harry Potter!»
Neben Jiddisch lernte er auch Tamil, die Muttersprache seines indischen Vaters.
Die magische Geschichte eines britischen Jugendlichen in eine Sprache zu übersetzen, die keine Verbindung zu dieser Welt hat, brachte so manche Herausforderung mit sich. So wechselt die Erzählperspektive immer wieder vom unabhängigen Erzähler in der dritten Person zu Harry Potter selbst. Dieser ganz bestimmte Ton eines zehnjährigen, selbstironischen, sarkastischen britischen Jungen, das habe es so im Jiddischen zuvor noch nicht gegeben. Schaechter Viswanath hatte es sich also zur Aufgabe gemacht, zu beweisen, dass die jiddische Sprache flexibel genug ist, einen ähnlichen Effekt zu kreieren.
Quidditch Und dann gab es noch die Sache mit den ausgedachten Worten. In dem fiktiven Ballspiel Quidditch gibt es zum Beispiel einen kleinen goldenen, flatternden Ball, der im Original «golden snitch» und in der deutschen Übersetzung «goldener Schnatz» heißt. Beide Begriffe haben keinerlei Bedeutung, aber erregen bei den Lesern ein ähnliches Gefühl. Für Arun Schaechter Viswanath war klar, dass er das Wort in seiner Übersetzung nicht mit «Schn» beginnen lassen würde, denn das erinnere zu sehr an die karikaturartige Generalisierung der jiddischen Sprache – machen sich doch viele über die zahlreichen «sch»-Laute im Jiddischen lustig. Also suchte Arun nach einer besser klingenden Alternative und legte sich schließlich auf «Flaterl» fest, das jiddische Wort für Schmetterling.
An den Übersetzungen arbeitet Arun mit einem detaillierten Excel-Spreadsheet. Ganz wie es sich für einen guten Analysten gehöre, erklärt er lachend. Jedes Kapitel hat seinen eigenen Reiter, jeder Paragraf seine eigene Zelle, und in der nebenstehenden Spalte arbeitet er an der jiddischen Übersetzung zum englischen Originaltext.
Zur Übersicht seines Fortschritts hat Arun zudem eine Tabelle erstellt, in der alle Wörter und Charaktere zusammengezählt werden und die ihm die Vollständigkeit jedes Kapitels in Prozent anzeigt.
verkäufe Das Spreadsheet zu Band 1 leuchtet grün. Er ist seit drei Jahren auf dem Markt und wurde bisher mehr als 3000-mal verkauft. Inzwischen arbeitet Arun an Teil 2 – den er noch vor der Geburt seines zweiten Kindes im Herbst fertigstellen will.
Auf die Frage, ob es sein Ziel sei, alle Harry-Potter-Bände zu übersetzen, muss er lachen: «Ich sterbe, bevor das passieren wird – die Romane werden von Band zu Band länger.» Sein Ziel hat Arun Schaechter Viswanath bereits erreicht: Seine Kinder werden mit der jiddischen Sprache und Harry Potter aufwachsen – die Welt, von der er geträumt hat, wird Wirklichkeit.
Das Buch ist zum Preis von 18 US-$ (zuzüglich Versand) erhältlich unter:
www.harrypotter.olniansky.com