Wir haben das Grab von Harry Houdini nicht gefunden. Es schüttete wie aus tausend Gießkannen, als wir am Machpelah-Friedhof in Queens ankamen. Das allein wäre noch nicht schlimm gewesen. Es lag aber außerdem noch massiv Schnee auf den Wegen und Gräbern: Überbleibsel von einem Blizzard, der über New York hinweggefegt war.
Wir stapften durch das Nasse, Klebrigweiche, gaben uns redlich Mühe. Aber wir fanden das Grab von Houdini nicht. Im Internet kann man immerhin googeln, wie es aussieht: eine halbrunde Scheußlichkeit aus weißem Marmorstein mit einer Frauengestalt, die sich in das Halbrund schmiegt. Das Grabmonument tut so, als sei Houdinis Gattin ebenfalls hier begraben, aber die schläft in Wirklichkeit anderswo der Auferstehung entgegen. Sie war nämlich keine Jüdin, sondern eine deutsche Katholikin aus Brooklyn – dazu gleich mehr.
Armut Houdini hat immer ein bisschen gemogelt, wenn man ihn nach seinem Geburtsort und dem Datum befragte: 6. April 1874, Appleton, Wisconsin, behauptete er dann. Die Wahrheit: 24 März, Budapest, Österreich-Ungarn. Der werte Name war Erich Weiß. Sein Vater, Mayer Samuel, heißt es in den meisten Biografien, sei ein Rabbi gewesen, die genauere Berufsbezeichnung muss indessen lauten: Nebbich. Es gibt keine Hinweis, dass er eine Smicha hatte; die k.-u.-k. Behörden führten ihn in ihren Listen als Seifensieder.
Nach der Auswanderung hat er in Wisconsin zwar als Rabbiner fungiert, aber nur vier Jahre lang, dann hat die Gemeinde ihn gefeuert: Sie wollte keine Predigten in ungarisch gefärbtem Habsburgerdeutsch, sondern auf Englisch. Ohne Zweifel war Mayer Samuel Weiß ein hochgebildeter und frommer Mann, nur gelang es ihm nie so richtig, seine Familie zu ernähren. Houdini wuchs in grauenhafter Armut auf, über die er später nur ungern sprach. Trotzdem hat er seinen Vater immer verehrt. Er sagte zu seiner Jahrzeit immer Kaddisch und bewahrte auf einem Wachszylinder Gedichte auf, die sein Vater gesprochen hatte.
Houdinis Karriere begann als 17-Jähriger, da fing Erich mit einem Arbeitskollegen an, durch Amerika zu tingeln und Parodien zu singen. Das Team nannte sich »Die Houdini-Brüder«, nach einem berühmten französischen Magier des 19. Jahrhunderts. Später trennten sich ihre Wege, und eine junge Frau trat an Houdinis Seite: Wilhelmina Beatrice Rahner.
Göre Später hieß es, bei ihrer Hochzeit seien ein katholischer Priester, ein Rabbi und ein Friedensrichter zugegen gewesen, aber wer will das schon so genau wissen? Jedenfalls sprach die Mutter der Braut hinterher zehn Jahre nicht mit ihrer Tochter. Wie konnte die Göre es nur wagen, einen Juden zu heiraten?
Zusammen mit seiner Frau, die in Amerika einfach Bess genannt wurde, hat Erich Weiß – alias Harry Houdini – das meiste von dem erfunden, was Magier heute so auf der Bühne treiben. Im New Yorker Jewish Museum an der Fifth Avenue kann man noch bis 27. März ein paar der Utensilien besichtigen, die Houdini bei seinen Auftritten in Europa und Amerika verwendete.
Da sind Handschellen aller Art, von denen er sich blitzschnell befreite, nachdem er von einer Brücke ins Wasser gesprungen war. Da ist die berühmte volle Milchkanne, in die er sich zwängen ließ und knapp dem Schicksal entrann, darin zu ertrinken. Da ist endlich auch die Holzkammer voll Wasser mit dem dicken Glasfenster, in die Houdini sich kopfüber hängen ließ. Dann kämpfte er vor den Augen des geneigten Publikums um sein Leben. Abend für Abend.
Elefanten Houdini war der Erste, der nicht Kaninchen aus dem Zylinder zauberte oder Tauben in Luft und Federn auflöste. Er ließ gleich einen ganzen Elefanten verschwinden. Houdini hielt sich physisch immer in Topform – er begriff, dass man alles riskieren muss, um das Publikum zu überwältigen. Und er schaffte es, so unverschämt berühmt zu werden, dass auch wir Heutigen ihn nicht vergessen haben.
Houdini hatte allerdings auch Glück: Als er mit seinen Entfesselungskunststücken begann, lernten die Bilder im Kino gerade das Laufen. So kam es, dass bald die ganze Welt ihm zuschaute. In der Ausstellung im Jewish Museum sehen wir, wie Houdini von einem Kran an den Füßen in die Höhe gezogen wird. Er trägt eine Zwangsjacke. Er windet und schüttelt sich ein wenig – es sieht ganz leicht aus –, dann ist er frei.
Solche halsbrecherischen Akte hatten im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts symbolische Kraft: Die große Krise war zwar noch nicht da, aber durch das Land wehte schon ein ziemlich scharfer Wind. Es herrschte eine hässliche Stimmung gegen Einwanderer: 1924 wurde das Quotensystem eingeführt, das die Zahl der Immigranten aus den verschiedenen Ländern radikal begrenzte. Dass ein Jude aus Ungarn öffentlich vorführte, wie man eine Zwangsjacke über den Kopf zieht, während man an einem Strick hängt, hatte in diesem Zusammenhang etwas Ermutigendes.
In einem späteren Lebensabschnitt führte er nicht nur Kunststücke vor, sondern wurde als Aufklärer gegen den Obskurantismus tätig: Wer immer eine Séance veranstaltete, lief Gefahr, dass Houdini sich mit falschem Schnurrbart daran beteiligte und im unpassenden Moment das Licht anknipste.
Geister Besonders nach dem Ersten Weltkrieg, als viele Menschen ihre Liebsten verloren hatten, fielen die Leute in Scharen auf den Spiritismus herein. Zu den Gläubigen gehörte auch Sir Arthur Conan Doyle, der Schöpfer von Sherlock Holmes. Er veranstaltete eine Geisterbeschwörung zu Ehren von Houdini, bei der Lady Doyle in Trance schriftliche Nachrichten von Houdinis toter Mutter übermittelte.
Das Problem: Sie kritzelte als Erstes ein Christenkreuz auf das Papier – und sie schrieb Englisch, eine Sprache, die Houdinis Mutter nie in den Sinn gekommen wäre. Sir Arthur vermutete, es handle sich um eine Übersetzung aus dem Hebräischen, die im Geisterreiche getätigt worden sei. Indes: Auch diese Sprache hatte Houdinis Mutter nicht beherrscht. In der Familie Weiß wurde vielmehr, wie es sich für einen ordentlichen k.-u.-k Haushalt gehört, Deutsch gesprochen.
Harry Houdini starb am 31. Oktober 1926 an einem geplatzten Blinddarm. Er wurde nur 52 Jahre alt. Sein Todestag war zufällig Halloween, die Nacht der Hexen und Untoten. Und deswegen versammeln sich jedes Jahr zu Halloween die Fans an seinem Grab in Queens – jenem Grab, das wir im Schneematsch nicht gefunden haben. Sie wollen dort mit seinem Geist in Kontakt treten. Wäre es nicht ein wunderbarer postumer Witz, wenn der große Rationalist ihnen dort eines Nachts wirklich erschiene?
www.thejewishmuseum.org