Frankreich

Madame le Rabbin

Französische Zeitungen nennen sie Revolutionärin: Delphine Horvilleur (38) Foto: Jean-François Paga-Grasset

Ist in Diskussionen über Gleichberechtigungsfragen von französischen Verhältnissen die Rede, bekommen viele Feministen strahlende Augen: Der Staat kümmert sich um die Betreuung der Kinder, die meisten Frauen gehen einem Beruf nach und stehen auf eigenen Beinen – und tatsächlich, der Babyboom der vergangenen Jahre scheint zu beweisen, dass viele Franzosen sich in diesem Bereich nicht ohne Grund als besonders fortschrittlich verstehen.

Für die religiöse Welt gilt dies jedoch nicht: Obwohl in Frankreich mit rund 550.000 Mitgliedern die größte jüdische Gemeinschaft Europas lebt, finden sich zwischen Mittelmeerküste und Ärmelkanal gerade einmal zwei Rabbinerinnen. Im Französischen gibt es nicht einmal ein eigenes Wort für ordinierte Frauen.

Titel Wollen Journalisten Delphine Horvilleur, eines dieser beiden seltenen Exemplare, beschreiben, müssen sie erst einmal einen passenden Titel finden. An Auftritten und Porträts in Fernsehen, Radio und Zeitungen mangelt es derzeit nicht: Um die 38-Jährige, die als Rabbinerin in einer pulsierenden liberalen Pariser Gemeinde in der Nähe des Eiffelturms amtiert, hat sich seit Anfang des Jahres ein kleiner Medienhype entwickelt.

Das mag auch daran liegen, dass die modisch gekleidete Mutter von drei Kindern, die früher unter anderem als Model erfolgreich war, mit ihrer offenen, frischen Art so überhaupt nicht dem gern gepflegten Rabbi-Image vom verwitterten langbärtigen Gelehrten entspricht.

Doch vor allem inhaltlich ist Horvilleur im männlich-orthodox dominierten französischen Judentum ein Hingucker: Mit ihrer Forderung nach einem modernen Glauben, der Zweifel zulässt und die Religion nicht als zu konservierendes Artefakt in die Vitrine stellt, hat sie viel Staub aufgewirbelt. Man beschreibt sie als Revolutionärin; einer Zeitung fiel sogar die Bezeichnung »Calamity Jane in der Synagoge« ein. Ein braun gelockter Pistolero also, munitioniert mit feministischer Toraauslegung?

Wer Horvilleurs sehr verschlungenen Weg ins Rabbineramt und ihre Beweggründe nachvollzieht, merkt schnell, dass sich alle abgedroschenen Zuschreibungen der revoltierenden Emanze verbieten. Treffender wäre das Bild einer ambitionierten Frau, deren religiöse Spurensuche von vielen geschlossenen Türen geprägt war.

Wut Im lothringischen Nancy in eine traditionelle aschkenasische Familie geboren, ging sie nach dem Abitur nach Jerusalem, um Medizin zu studieren. In dieser Zeit, erzählt sie, sei sie fast antireligiös gestimmt gewesen. Nachdem ihre Eltern sie und ihren Bruder gleichberechtigt erzogen hatten, war sie schockiert, wie sehr die Praxis und Werte in der Synagoge von diesem Ideal abwichen: »Mein Bruder und ich haben parallel Barmizwa und Batmizwa gefeiert. Während das Ereignis bei meinem Bruder in der Gemeinde von allen sehr ernst genommen wurde, galt meine Zeremonie als ziemlich belanglos.«

Sie sei damals »eine junge wütende Frau« gewesen, erzählt sie schmunzelnd, doch auch heute noch regt sie sich über das orthodoxe Morgengebet auf, in dem Männer Gott dafür danken, »mich nicht als Goi, Sklave oder Frau geboren zu haben«.

Nach ihrem Universitätsabschluss arbeitete sie für den Sender France 2 in Israel als Fernsehjournalistin und näherte sich über das private Studium von Tora und Talmud wieder dem Glauben an. Je mehr sie in die Texte eingetaucht sei, desto mehr habe sie begriffen, dass sie alles andere als revolutionär sei, sagt sie heute. Mit Blick auf wichtige weibliche Figuren wie Rebekka, Ruth und Esther fühle sie sich eher traditionell und bekräftigt: »Die Religion ist nicht so frauenfeindlich wie die Männer, die in ihrem Namen reden.«

Nachdem ihr als Frau in Frankreich die Möglichkeit eines tiefer gehenden Studiums der Tora verwehrt blieb, schrieb sie sich 2003 am Hebrew Union College in New York ein. Als sie 2008 als Rabbinerin ordiniert wurde, bot ihr ihre jetzige Pariser Gemeinde sofort eine Stelle an – liberale Rabbiner, die Französisch sprechen, sind rar.

Aufklärung Doch warum hat das liberale Judentum in Frankreich, das so sehr von Revolution und Aufklärung geprägt ist, so einen schweren Stand? Die Antwort muss heißen: Nicht trotz, sondern wegen der 200 Jahre währenden Kämpfe zwischen Staat und Religion. So hat sich im Land des Laizismus eine strengere Zweiteilung durchgesetzt als anderswo. Wer in der Moderne verankert ist, hält sich von der Religion oft komplett fern, wer am Glauben festhält, verschafft sich in der Orthodoxie seinen Halt.

Delphine Horvilleur versucht, zwischen Religion und Moderne zu vermitteln. Doch auch ihre Erklärung für die Schwäche der Liberalen, die in Frankreich weniger als 15 Synagogen unterhalten, geht auf die Revolution zurück. Die von Napoleon eingesetzten staatlich anerkannten Repräsentanten der Religionsgemeinschaften würden im französischen Judentum mit dem orthodoxen Großrabbiner an der Spitze bis heute offiziellen und exklusiven Charakter beanspruchen, sagt sie. Und dadurch werde das französische Judentum als hierarchische, einheitliche Organisation wahrgenommen und folge absurderweise einem Modell, das eigentlich dem Katholizismus nachgebildet sei, klagt die Rabbinerin.

Wenn sie vom »offiziellen orthodoxen Judentum« spricht, das die Liberalen »immer noch nicht anerkennt«, dann kommt bei Horvilleur die »wütende Frau« zum Vorschein. Sie klagt über eine Radikalisierung, die sich in der »zunehmenden Besessenheit von Gesetzen« und der Verschlechterung der Rolle der Frau auswirke: »Teilweise wird sogar die Mechiza zwischen Frauen und Männern wieder aufgebaut!« Genauso ärgert sie die »Entintellektualisierung« der jüdischen Eliten, allen voran der Rabbiner.

Nicht in strikten Gesetzen, sondern in ihrer Interpretation und Weiterentwicklung nach dem Vorbild der rabbinischen Kommentare liegt für Horvilleur das plurale Wesen des Judentums, das sie nach vielen Lebensstationen für sich entdeckt hat. Im Gespräch blickt sie ihrem Gegenüber offen ins Gesicht und sucht den Austausch, als Rabbinerin versteht sie sich auch als Moderatorin.

Der Blick auf die Uhr beendet das Gespräch: Sie muss nach den Kindern sehen – bisher nicht gerade typisch für den Tätigkeitsbereich eines Rabbiners. Delphine Horvilleur wird dafür sorgen, dass sich das in Zukunft ändert.

Von Delphine Horvilleur erschien kürzlich im Pariser Grasset-Verlag der Essay »En tenue d’ève. Féminin, Pudeur et Judaïsme« (»Im Evaskostüm. Weiblichkeit, Scham und Judentum«).

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