Eine offene Tür, ein freies Wort. Undenkbar war es lange für in Frankreich lebende Juden, sich in der Wohnung zu verbarrikadieren und bei jedem Gespräch mit Fremden auf der Hut zu sein. Seit Generationen wertschätzen Aschkenasim und Sefardim in gleichem Maße die Aufgeschlossenheit der Franzosen und die aufklärerische Grundgesinnung im Lande.
Und das, obwohl die Erinnerung an die Rafle du Vel dʼHiv, die Massenverhaftung Tausender Pariser Juden während des Zweiten Weltkriegs nicht vergessen ist. Obwohl die Morde an Sarah Halimi und Mireille Knoll das kollektive jüdische Gedächtnis markiert haben. Man hat es ausgehalten, gibt der Heimat eine Chance.
In Frankreich lebt die größte jüdische Gemeinde Europas seit der Schoa und die drittgrößte jüdische Bevölkerungsgruppe weltweit. Jüdisches Leben findet in den Parks und auf den Boulevards statt, in den Schulen, in den Arztpraxen und Ministerien, in Restaurants und selbstverständlich in gut besuchten Synagogen. Natürlich hadern französische Juden wie viele ihrer Mitbürger mit der täglichen Unbill und dem Stress der Metropole. Für waschechte Pariser aber gehört Murren und Monieren schlichtweg dazu. Sich über fehlende Klempner, Streiks und Affären aller Couleur zu beklagen, ist quasi Nationalsport. Doch seit dem 7. Oktober fegt ein schneidender Wind des Wandels durchs Land. Die Angst grassiert, der Argwohn wächst, das Vertrauen in die französische Nation schwindet.
Drittgrößte jüdische Bevölkerungsgruppe weltweit
Gérard Berrebi, ein aus Tunesien stammender Jude, der in Frankreich als Schlosser zu Wohlstand gelangt ist, weigert sich, der Furcht noch mehr Raum zu geben. In seinem Apartment im schicken siebten Arrondissement am linken Seineufer haben er und seine Frau Evelyne zum Abendessen geladen mit Räucherlachs, Roastbeef und koscherem Wein. Er möchte sein Frankreich erklären – das er trotz aller Widernisse nicht so leicht aufzugeben bereit ist. Die Offenheit der französischen Gesellschaft habe es ihm ermöglicht, sich eine Existenz aufzubauen und seinen Kindern eine gute, republikanische Bildung angedeihen zu lassen. Dem französischen Lebensstil, dem Savoir-vivre fühlten sich alle Berrebis verbunden.
Allerdings sagt er auch: »Natürlich würde ich lieber in Israel leben. Dort fühle ich mich zu Hause.« Ja, er hege den Wunsch, in den nächsten Jahren auszuwandern. Sein Bruder habe den Plan bereits in die Tat umgesetzt und sich in einem traditionellen Viertel in Jerusalem niedergelassen. Nicht zuletzt, weil er in Paris bei seinen Kindern eine Entfremdung vom Judentum und ein Unverständnis für Israel festgestellt habe. Nach einer Eingewöhnungsphase hätte aber auch die Tochter ihr Glück in Jerusalem gefunden.
»Natürlich würde ich lieber in Israel leben. Dort fühle ich mich zu Hause.«
Gérard Berrebi
»Man muss abwägen«, stellt Berrebi fest, »und manchmal auch finanzielle Einbußen um der Familie willen in Kauf nehmen.« Doch auch, wenn er immer schon vorgehabt habe, seinen Lebensabend mit Evelyne in Israel zu verbringen, die Söhne würden lieber in Frankreich bleiben. Der ältere hat erst vor Kurzem das väterliche Geschäft übernommen und wider eigenes Erwarten darin eine berufliche Erfüllung gefunden.
Gérard Berrebi verhehlt nicht, dass ihm die Entscheidung seines Sohnes Freude bereitet, wenngleich er sich für seine Kinder einen »vornehmeren Beruf« als den seinen gewünscht hätte. »Vornehm, vornehm? Warum stellst du dein Licht so unter den Scheffel, Papa?« Den lebhaften Widerspruch des Nachwuchses quittiert er mit einem Lächeln. Er sei nun mal traditionell, und auch politisch habe er eine klare Position. Abrupter Themenwechsel: Die Hamas müsse beseitigt werden. Denn wenn der Terror nicht besiegt werde, sei Israel dem Untergang geweiht.
Der jüngere Sohn, Mathematiker bei einer Versicherung, opponiert sofort, weist auf die zivilen Opfer hin, will nicht wahrhaben, dass die Menschlichkeit versagt. »Alle Menschen sind gleich«, hält er dem Vater entgegen, »kein Menschenleben ist weniger wert als ein anderes.« Die Stimmen werden lauter, die Mienen verdunkeln sich. Mutter Evelyne bringt das Gespräch zurück auf einen Punkt, in dem sich alle einig sind: Sie alle erlebten eine Zeitenwende, die durch den Tag des Schreckens unleugbar geworden sei.
»Der 7. Oktober war ein monströser Tag«, fügt Gérard Berrebi hinzu, monströs, da jeder andere Begriff dem Horror nicht gerecht werde. Weder könne von unmenschlichem Verhalten noch von Bestialität die Rede sein, denn Tiere seien zu solchen Untaten nicht fähig. »Das Grauen hat eine neue Dimension erreicht. Es ist eine fatale Niederlage des Menschlichen«, sagt er. Evelyne und die beiden Söhne stimmen ihm zu, sichtbar erschüttert von der Erinnerung an jenen Tag, der sich für immer in ihr Gedächtnis eingebrannt hat.
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
Der jüngere Sohn aber knüpft an den ursprünglichen Gesprächsfaden an und bringt den Universalismus zurück an den Tisch: »Wir alle müssen uns besinnen auf die Gemeinsamkeiten, um dem Krieg ein Ende zu setzen.« Der deutsch-französische Freund aus Grundschulzeiten, der ebenfalls zu Gast ist, kontert: »Der Begriff des Universalismus wird von einer postkolonialen Linken missbraucht. Wie sollen übergeordnete Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gelten, wenn der Rechtsstaat nicht anerkannt oder gar die Scharia propagiert wird?«
»Das ist«, so die Mutter, die sich an einer Pariser Universität um Austauschstudenten kümmert, »als würdet ihr zwei verschiedene Sprachen sprechen, und keiner versteht den anderen. Man muss erst einmal eine gemeinsame Sprache finden.«
Das Argument leuchtet dem Sohn ein, obschon es ihm schwerfällt, das Augenfällige zu akzeptieren. Auch der Vater hat berufsbedingt einen speziellen Blick auf die Dinge: Contre cognée, serrure ne peut. Gegen die Axt vermag ein Schloss nichts auszurichten, lautet ein französisches Sprichwort. So sehr man sich auch bemühe, Familie und Eigentum zu schützen, gegen Gewalt seien Schlüssel und Schloss ein schwacher Behelf. Die Söhne beäugen den Vater skeptisch.
Allgegenwärtig ist das Thema Israel auch bei der französischen Jugend. Sogar an der Sorbonne, betont Evelyne Berrebi, habe man zum Boykott israelischer Produkte aufgerufen. Zudem hätten sich auch viele französische Kulturgrößen auf die Seite der »Palästinenser« geschlagen. Sei es aus Unwissen oder aus Opportunismus, so der deutsch-französische Freund. Dass die Sängerin und Schauspielerin Charlotte Gainsbourg, Tochter von Serge Gainsbourg, die schon seit Jahren in Interviews Solidarität mit Israel zeigt, auf Instagram die Namen der von der Hamas verschleppten Geiseln vorliest, sei eine Ausnahmegeste in einer vorwiegend israelfeindlichen Branche.
»Dass Charlotte Gainsbourg auf Instagram die Namen der von der Hamas verschleppten Geiseln vorliest, ist eine Ausnahmegeste.«
Evelyne Berrebi
Viele Künstler stehen der Linken unter Jean-Luc Mélenchon nahe, der seit Langem einen unheilvollen Pakt mit dem politischen Islam geschlossen hat und eine israelfeindliche Wählerschaft anvisiert. Gérard Berrebi hegt Groll gegen die französische Linke und fragt, ob Deutschland einen ebensolchen linken Antisemitismus kenne. Erstaunt nimmt er zur Kenntnis, dass auch dort die Judenfeindlichkeit auf allen Seiten zunehme. Aber Deutschland habe doch eine besondere Pflicht aufgrund der Vergangenheit, eine neue Tragödie zu verhindern. Er schüttelt den Kopf und wendet sich wieder der französischen Politik zu.
Emmanuel Macron habe ihn sehr enttäuscht, konstatiert Gérard Berrebi. »Er sagt alles und sein Gegenteil.« Als widersprüchlich empfinden alle Tischgenossen das Verhalten des französischen Präsidenten. Nach dem 7. Oktober hatte Macron sich bedingungslos an die Seite Israels gestellt und Israel jedes Recht zuerkannt, sich zu verteidigen und die Hamas zu bekämpfen. Nur wenige Wochen später aber plädierte er in einem Interview mit der BBC für einen Waffenstillstand. Über die Beweggründe des Präsidenten rätseln nicht nur alle bei Tisch. Angst vor der hohen Attentatsgefahr in Frankreich scheint plausibel. Vielleicht aber habe sich Macron auch von den Juden distanzieren wollen, da man ohnehin schon über seine große Nähe zur jüdischen Gemeinde munkelt.
Einen Kardinalfehler habe er begangen, als er Oberrabbiner Haïm Korsia im Élysée-Palast die erste Chanukkakerze anzünden ließ. Der Kritik, die vor allem von linken und progressiven Zeitungen vorgebracht wurde, schließen sich die Berrebis und ihre Gäste an. »Chanukka ist ein religiöses Fest«, so der ältere Sohn. »Macron hat das Prinzip der Laizität verletzt.« Eine religiöse Zeremonie sei im Élysée fehl am Platz. Eine Hilfe für die jüdische Gemeinde sei das nicht gewesen, pflichtet ihm der jüngere Sohn bei, denn eine konsequent eingehaltene Laizität sei ein Schutz für alle Religionen. »Ein Schutz, den vor allem wir Juden dringend benötigen«, fügt Evelyne Berrebi hinzu.
Sie alle haben Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht, wenngleich sie das Glück hätten, in einem privilegierten Viertel zu leben. Zu Ohren gekommen aber sind ihnen Geschichten von hochqualifizierten jüdischen Angestellten und Beamten, die aufgrund ihres Namens diskriminiert würden. Einer seiner Freunde, so der jüngere Sohn, erwäge, seinen offenkundig jüdischen Namen zu ändern. »Und ich kann es ihm nicht verdenken«, stimmt Gérard Berrebi zu, »und das sage ich, der ich stolz bin, Jude zu sein!«
Der Antisemitismus breite sich in allen Lebensbereichen aus. Jüdische Wohnungen und Haustüren seien sogar mit dem Davidstern markiert worden. Niemals habe er gedacht, dass es in Frankreich je wieder zu einer solch prekären Lage für die Juden kommen würde. »Israel muss den Krieg gewinnen«, betont er, »denn Israel führt diesen Krieg für uns alle.« Dieses Ziel müsse Europa unterstützen, anstatt Symbolpolitik mit Chanukkakerzen zu betreiben. Die Hetze werde nur noch zunehmen, wenn der Präsident auch noch den Eindruck erwecke, eine Religion zu privilegieren.
Wer vermag die französischen Juden zu unterstützen?
Die goldene Regel für französische Juden lautete immer schon Assimilation: sich anzupassen an die französische Kultur, über Bildung und Arbeit den Aufstieg zu erreichen und die Religion im Privaten zu praktizieren. »Macron ist keine feste Bank, auf die man bauen kann«, klagt Gérard Berrebi. »Anstatt Kerzen anzuzünden, hätte er lieber bei den antisemitischen Demos dabei sein sollen«, wirft der jüngere Sohn ein. Wer aber vermag die französischen Juden zu unterstützen? Ratlosigkeit lässt sich an den Gesichtern ablesen.
Evelyne schenkt Wein nach, versucht, die bedrückte Stimmung mit Gastlichkeit zu überwinden. Der jüngere Sohn steht auf und bereitet Kaffee zu. Schließlich wird geplaudert über die besten Macarons, das neueste japanische Restaurant und über einen Spaziergang vom siebten Arrondissement bis zum Montmartre. »Zwölf Kilometer sind wir gelaufen«, sagt Evelyne Berrebi stolz, und alle wissen, dass sie die Kraft und Ausdauer haben, auch andere Hindernisse zu bezwingen. »Morgen gehe ich wieder zur Tora-Stunde«, sagt sie, »das tut mir gut.«
»Schützen können wir uns nur selbst«, sinniert Gérard Berrebi und stellt die Kaffeetasse ab. »Meine Schlüssel jedenfalls hängen nicht alle an einem Gürtel.«