Dass das Staatsoberhaupt eines arabischen Landes eine Synagoge besucht, geschieht äußerst selten. Außer in Marokko. Dort war König Mohammed VI. kürzlich nach Essaouira gekommen, um das Bayt Dakira (Haus der Erinnerung) zu eröffnen, das in dem ehemaligen jüdischen Bethaus Slat Attia untergebracht ist. Bereits 2016 hatte der König in Casablanca eine Synagoge eröffnet.
Atlantik Essaouira, das früher Mogador hieß, wurde 1764 von Sultan Mohammed III. gegründet. Er siedelte dort 6000 Juden an. Heute leben in der 80.000-Einwohner-Stadt am Atlantik nur noch ein paar Dutzend Juden, doch im 19. Jahrhundert war rund die Hälfte der Bevölkerung jüdisch. Damals galt Mogador als die größte »jüdische Stadt« in der islamischen Welt. Unter französischer Verwaltung von 1912 bis 1956 verlor sie aber an Bedeutung und verfiel.
Erst seit rund 30 Jahren erlebt Essaouira eine Renaissance, auch dank des Engagements des jüdischen Journalisten und ehemaligen Bankiers André Azoulay. Der 78-Jährige ist ein enger Berater des marokkanischen Königs.
Azoulays Tochter Audrey war von 2016 bis 2017 französische Kulturministerin, heute ist sie Generaldirektorin der Weltkulturorganisation UNESCO.
Essaouira André Azoulay wurde in Essaouira geboren. Die Eröffnung des Bayt Dakira in der Mellah, dem ehemaligen jüdischen Viertel seiner Geburtsstadt, nennt er »einen persönlichen Glücksmoment« und »die Erfüllung eines Lebenstraums«.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war Marokko das arabische Land mit der größten jüdischen Gemeinde. Doch nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 verließen die meisten der rund 280.000 Juden allmählich das Land. Die Feindseligkeit ihnen gegenüber hatte zugenommen.
Dennoch gibt es auch heute noch – im Gegensatz zu den meisten anderen muslimischen Ländern – eine lebendige jüdische Gemeinschaft in Marokko. Die meisten Juden leben in der Millionenmetropole Casablanca. Dort werden 15 Synagogen, fünf koschere Restaurants, drei jüdische Schulen, ein Altenheim und ein Gemeindezentrum betrieben.
Synagogen Der König und die Regierung unternähmen enorme Anstrengungen, um das jüdische Erbe im ganzen Land zu bewahren, sagt Serge Berdugo, der Vorsitzende des jüdischen Gemeindebundes in Marokko. So seien in den vergangenen Jahren 170 jüdische Friedhöfe renoviert und 20 Synagogen instandgesetzt worden. In der marokkanischen Verfassung von 2011 wird das »hebräische Erbe« ausdrücklich erwähnt, und »rabbinische Gerichte sind Teil der staatlichen Gerichtsbarkeit, zum Beispiel in Familienfragen«, so Berdugo.
Die staatlichen Aktivitäten zur Bewahrung jüdischer Stätten und das Engagement des Königs förderten den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land, betont der 82-Jährige, der sich seit Jahrzehnten für den Dialog zwischen Muslimen und Juden einsetzt. Er war von 1993 bis 1995 Tourismusminister, heute ist er königlicher Sonderbotschafter.
Gemeinde Die jüdische Gemeinschaft des Landes habe mittlerweile zwar nur noch 3000 Mitglieder, die fühlten sich aber sicher und als selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft. »Natürlich gibt es hier – wie anderswo auch – Antisemitismus. Aber unsere Rabbiner können mit Kippa auf der Straße herumlaufen, ohne dass sie Angst haben müssten, beschimpft oder verprügelt zu werden«, so Berdugo. Darin unterscheide sich sein Land von den meisten anderen in der arabischen Welt.
Dennoch ist nicht alles rosig in Marokko. Das Land wird vom König straff und bisweilen auch mit harter Hand geführt, Kritik an ihm wird bestraft. Immer wieder beschweren sich Menschenrechtsorganisationen über Einschränkungen der Meinungsfreiheit.
Auch wenn das Judentum als einzige »einheimische« Religion neben dem Islam von staatlicher Seite toleriert und geschützt wird, ist Marokko bei der Religionsfreiheit von westlichen Standards weit entfernt. So dürfen im Land lebende ausländische Christen ihren Glauben zwar frei ausüben, das Missionieren aber ist gesetzlich verboten, und der Übertritt eines Marokkaners zum Christentum wird gesellschaftlich nur selten toleriert.