Seit dem Rücktritt von Ed Miliband im Mai steckt die Labour Party im internen Wahlkampf. Zwei Männer, Andy Burnham und Jeremy Corbyn, sowie zwei Frauen, Yvette Cooper und Liz Kendall, buhlen um die Gunst der Mitglieder. Für viele steht jedoch bereits fest, wer am Samstag die Wahl zum neuen Parteichef gewinnt: Jeremy Corbyn.
Der vollbärtige 66-Jährige, der sich gern eine Gewerkschafterkappe aufsetzt, ist seit 1983 Unterhausabgeordneter für den Londoner Wahlkreis Nordislington und der einzige Kandidat, dessen politische Weltanschauung auf ein traditionell sozialistisches Fundament zurückzuführen ist. Unter dem Motto »Prioritäten setzen für Arme und Menschenrechte für alle« plädiert er gegen die Sparpolitik der Regierung, der er mit Wirtschaftswachstum und Innovationsmaßnahmen begegnen will. Außerdem fordert er eine ganze Reihe von populären Maßnahmen: bessere Wohnungen, die Abschaffung der Studiengebühren, den Abbau des Atomwaffenarsenals und eine Außenpolitik im Einklang mit der UNO.
Missmut Viele glauben zwar, seine Ansichten brächten frischen Wind in die Politik, doch stoßen sie ebenso auf Missmut – selbst innerhalb der Partei. So bezeichnete der ehemalige Labour-Chef Tony Blair Corbyns Vorstellungen als »Fantasiewelt von Alice im Wunderland«.
Auch die Sprecherin der parlamentarischen Interessengruppe »Labour-Freunde Israels«, Joan Ryan, distanziert sich von Corbyn. Und bei den meisten britischen Juden herrscht ebenfalls Unbehagen. Laut der jüdischen Wochenzeitung Jewish Chronicle sehen sieben von zehn jüdischen Briten in Corbyn eine Gefahr. Er ist langjähriges Mitglied der Palestine Solidarity Campaign, einer pro-palästinensischen Lobbygruppe. Bei einer Veranstaltung bezeichnete er Mitglieder der militanten Bewegungen Hamas und Hisbollah als »Freunde«, behauptet nun aber, das sei nur »die Sprache der Diplomatie« gewesen.
Freunde Den Führer der Islamischen Bewegung in Israel, Scheich Raed Salach, nannte Corbyn »einen Mann, der sich hervorragend für die Seinen eingesetzt« habe, und der »auf meiner Terrasse zum Tee willkommen« sei. Dass Salach antijüdische Verschwörungstheorien verbreitet und vier Jahre zuvor verkündete, Juden würden »ihr heiliges Brot mit Kinderblut backen«, will Corbyn nicht gewusst haben.
Ebenfalls nicht, dass Dyab Abou Jahjah, ein Funktionär der libanesischen Hisbollah, den Corbyn im März 2009 traf, sich offen und vulgär gegen Schwule und Juden ausgesprochen und den Mord an britischen, niederländischen und anderen NATO-Soldaten gefordert hatte. Die Liste der Leute, mit denen Corbyn Umgang pflegt, enthält auch einen Holocaustleugner und einen Pfarrer, der aufgrund der Verbreitung antijüdischer Verschwörungstheorien von sozialen Medien ausgeschlossen wurde.
Dennoch gibt es die etwa 300 bis 400 Mitglieder starke jüdische Gruppe »Jews for Jeremy«, die sich für Corbyn begeistert. Mitbegründer David Rosenberg, ein jahrzehntelanges Mitglied der kleinen britischen Gruppe Jewish Socialists, bewundert ihn »für seine tapfere Haltung gegen die Austeritätspolitik«.
Das Verhältnis von Juden zu Corbyn sei vielseitiger, als in den Medien berichtet, behauptet Rosenberg. Er könne dafür bürgen, dass der angehende Labour-Chef sich durchgehend gegen Antisemitismus eingesetzt habe. Jedoch gesteht er ein, dass dieser ein Antizionist ist, der erst vor Kurzem in einer Wahlkampfrede ein Waffenembargo gegen Israel forderte und zum Boykott von Produkten aus den besetzten Gebieten aufrief.
Schoaleugner Eine andere jüdische Gruppe, die Corbyn möglicherweise zum Teil nahesteht, ist die sozialistisch-zionistische Jugendbewegung Habonim Dror. Auf die Frage, ob es unter seinen Mitgliedern Corbyn-Anhänger gäbe, antwortete Direktor Jonathan Leader, dass Corbyns progressive sozialwirtschaftliche Haltung durchaus Beachtung fände.
Die meisten Mitglieder hielten sich jedoch aufgrund seines Antizionismus zurück, so Leader. Man könne über Israel durchaus debattieren, versicherte er, aber Beziehungen zu Antisemiten und Holocaustleugnern verdienten ein klares Nein. Nur wenn Corbyn seine Kontakte zu den kontroversen Personen glasklar und zufriedenstellend erklären würde, könnten Habonim-Mitglieder ihn unterstützten. Doch müsse man einräumen, dass Corbyn selbst kein Antisemit sei.
Glaubt man den Meinungsumfragen, muss man ab Samstag mit Corbyn an der Spitze der Labour Party rechnen. Sogar die britische Regierung stellt sich inzwischen auf ihn ein. Auch die jüdische Gemeinschaft und Israel werden wohl damit leben müssen. Viele trösten sich: Auch wenn es Corbyn an die Labour-Spitze schafft, wird er zunächst erst einmal fünf Jahre auf der Oppositionsbank sitzen. Persönliche Fehleinschätzungen kann er sich dann nicht mehr leisten, denn man wird ihm genau auf die Finger schauen.