Schweiz

Links ja, SP nein

Co-Parteipräsidenten der Sozialdemokratischen Partei Schweiz: Mattea Meyer und Cedric Wermuth Foto: picture alliance/KEYSTONE

Sie tat es kurz und schmerzlos: Hannah Einhaus gab ihren Austritt aus der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP) bekannt. Einhaus ist weder Politikerin noch in öffentlicher Funktion tätig, trotzdem sorgt ihr Austritt in der Schweiz und insbesondere in Bern für Gesprächsstoff. Die bekannte jüdische Historikerin und Autorin sowie Chefredakteurin des Magazins »Forum« der Jüdischen Gemeinde Bern wird deutlich, wenn es um die Haltung der SP gegenüber jüdischen Frauen im Kontext des 7. Oktober 2023 geht.

»Als Feministin dreht es mir den Magen um, wie Gewalt an Frauen und Mädchen in unseren Reihen seit dem 7. Oktober ignoriert oder gar geleugnet wird, sobald die Opfer als Jüdinnen wahrgenommen werden: #MetooUnlessYouAreAJew spricht hier Bände.« Sie kritisiert an ihrer politischen Heimat der vergangenen 27 Jahre, dass diese schweigt, dass sie »bei Gewalt an Jüdinnen und Juden wegschaut«. Überall fordere man »Inklusion, doch der jüdische Staat bleibt außen vor. Man solidarisiert sich mit radikal religiösen Terroristen und ihrer demokratiefeindlichen Ideologie und realisiert nicht, dass Antisemitismus ein frühes Alarmzeichen für eine erodierende Rechtsstaatlichkeit« ist.

Diese Überlegungen überbrachte sie der SP in einem öffentlichen Brief, dem ihr Parteiaustrittsgesuch beilag. Dafür wählte Einhaus kein anderes Datum als das des Schweizer Frauenstreiktags am 14. Juni. »Unter solchen Vorzeichen ist der feministische Streiktag mit seiner Parole ›Ni Una Menos‹ (nicht eine weniger) nur noch reine Selbstbeweihräucherung«, sagt sie. Außerdem fragt sich die 61-Jährige, die einst die Frauen- und Parteisekretärin der SP Stadt Bern war, wenn sich die SP heute mit den Juden desolidarisiere, mit wem dann morgen? »Wenn die Partei dazu beiträgt, dass Extremismus, Diskriminierung und Gewalt sich ausbreiten können, werden schon bald auch die Fundamente der lang erkämpften Frauenrechte bröckeln.«

Postkoloniales Narrativ

Einhaus sieht offenbar keine Bereitschaft mehr unter den Genossinnen und Genossen, einem anderen als dem angesagten »Nakba-Narrativ« Platz zu machen, wonach Israel die palästinensische Gewalt selbst verursacht habe. »Es geht ständig nur darum, dass die Palästinenser befreit werden müssen.« Dieses postkoloniale Narrativ verblende nicht nur viele linke Parteimitglieder, sondern stelle auch Israels Existenzrecht infrage.

In diese Richtung, dass vor allem die ältere Linke stark vom traditionellen Antiimperialismus geprägt ist, geht auch eine Studie von Christina Späti. Die Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg und an der Fernuni Schweiz forscht seit 20 Jahren zu Antizionismus, Antisemitismus und Rassismus sowie zum Nationalsozialismus und zur Geschichte nach dem Holocaust. 2006 veröffentlichte sie ihr Buch Die schweizerische Linke und Israel. Israelbegeisterung, Antizionismus und Antisemitismus zwischen 1967 und 1991. Darin stellt sie fest, dass nach der Staatsgründung Israels im Jahr 1948 die Euphorie für Israel in der SP wuchs.

»Man bewunderte die sozialistischen Elemente der zionistischen Bewegung. Viele waren auch motiviert durch diffuse Schuldgefühle: Sie meinten, die Schweiz habe jüdischen Flüchtlingen während des Nationalsozialismus nicht ausreichend geholfen, und wollten sich deshalb solidarisch zeigen mit dem jüdischen Staat.« Danach habe sich aber der Wind gedreht, vor allem nach 1967. »In der SP hielt die Israelbegeisterung bei vielen über den Sechstagekrieg hinaus an. Nach dem Krieg verbreitete der Antizionismus sich in der Schweiz, ähnlich wie in Deutschland, vor allem in der sogenannten Neuen Linken. Sie folgte häufig der nationalistischen Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) und vertrat anti-imperialistische Positionen, sprich, sie teilte die Welt in böse Imperialisten und gute Anti-Imperialisten ein, wobei sie Israel natürlich den Imperialisten und die PLO den Anti-Imperialisten zurechnete.«

Die Frage, zu wem man sich im Nahostkonflikt bekannte, war in der schweizerischen Linken damals – anders als heutzutage – eine Art Lackmustest: Wenn man sich auf die Seite Israels stellte, galt das als Zeichen dafür, dass man ein gemäßigter Sozialdemokrat war. Wer sich als Linker anti-israelisch äußerte, galt eher als Revolutionär.

»Palästina ist zu einer linken Chiffre geworden wie früher Vietnam oder Kuba.«

Erich Bloch

Heute sind jene linken Stimmen vor allem dann zu hören, wenn sie sich mit dem palästinensischen Lager solidarisieren. »Selbstverständlich gibt es diejenigen, die gegenüber dem gängigen Narrativ kritisch eingestellt sind, aber ich höre sie nicht«, sagt Einhaus. »In den ersten zwei Tagen war Mitgefühl zu vernehmen«, sagt sie über die Zeit unmittelbar nach dem 7. Oktober.

Dass aber bereits an Tag drei nach dem größten Massaker an Juden seit dem Holocaust die »Ja, aber«-Stimmen unüberhörbar laut wurden, habe sie einfach nur empört. So sei ihr Ausstieg aus der Partei im Juni auch nicht über Nacht erfolgt. Der unmittelbare Blick zurück zeigt deutlich: Bei einem Vorschlag der Außenpolitischen Kommission des Nationalrats war die SP zuerst geschlossen gegen ein Hamas-Verbot. Erst im vergangenen Juni stimmte die Fraktion schließlich einem Verbot zu – für die SP ein Paradigmenwechsel, was ihr viele zugutehielten.

Auch auf die Antisemitismus-Welle, die unmittelbar nach dem 7. Oktober auch die Schweiz überrollte, reagierte die SP. Noch am Vorabend der Parlamentswahlen initiierte damals deren Parteipräsident eine überparteiliche Antisemitismuserklärung. Doch bereits zu Beginn des neuen Jahres positionierte sich die SP wieder in altbekannten Mustern. So sprach sie sich für eine weitere Unterstützung des umstrittenen Palästinenserhilfswerks UNRWA aus, für ein Waffenexportverbot an Israel und für die einseitige Anerkennung eines Staates Palästinas, Letzteres immerhin an die Bedingung der Freilassung der israelischen Geiseln geknüpft. Im Zuge der anti-israelischen Proteste an Schweizer Hochschulen nahm die nationale Parteileitung eine gemäßigte, ausgleichende Rolle ein.

Schmerzgrenze erreicht

Da waren es lokale Sektionen in der französischen Schweiz und auch bekannte französischsprechende Parteimitglieder, die mit extremen und einseitigen Positionen auffielen. Diese ließen auch treue Parteimitglieder im Ausland aufhorchen wie zum Beispiel Erich Bloch. Der Präsident der Auslandsschweizer Organisation (ASO) in Israel geht sogar noch weiter, wenn er sagt, dass die Position vieler herausgestellter Parteimitglieder ihn »eine Schmerzensgrenze erreichen lasse«, weil sich die Partei derart »opportunistisch« verhalte und es nur noch »kaschierter Antisemitismus« sei, der »unter dem Vorwand der Befreiung Palästinas verbreitet« werde. Palästina sei zu einer linken Chiffre geworden wie früher Vietnam oder Kuba.

Aus diesem Grund habe der gebürtige Schaffhauser, der heute in Netanya lebt, aber seit seiner Jugend Parteimitglied war, auf Druck der Mitglieder den SP-Ableger in Israel aufgelöst. Unter dem Namen Antenne sind die Mitglieder SP International in Berlin, Brüssel, Rom, Tel Aviv und den USA organisiert. Diese treffen sich regelmäßig, um sozialdemokratische Positionen zu erarbeiten und sich eigenständig politisch zu engagieren. Sie versuchen, bei Abstimmungen und Wahlen möglichst viele Auslandsschweizer und Auslandsschweizerinnen vor Ort zu mobilisieren, und stehen als Ansprechpartner zur Verfügung.

Bloch ist der Netanjahu-Regierung gegenüber kritisch eingestellt, er und seine Frau gingen jede Woche demonstrieren. »Gleichzeitig konnten wir nicht mehr mitansehen, wie die Schweizer Politik sich von orchestrierter palästinensischer Propaganda täuschen lässt. Israel ist in diesen Belangen zu schwach, zu defensiv.« Bloch wünscht sich, dass nicht nur die Parteispitze, sondern auch ihre Mitglieder klarer Position beziehen. Es wundere ihn auch nicht mehr, dass politisch interessierte junge jüdische Menschen sich kaum in den Positionen der SP wiederfinden.

Auch Hermann Ascher, ein Unternehmer aus Bern, der nur unter Pseudonym sprechen möchte, weil er bereits Opfer antisemitischer Hetze wurde, kämpft mit dem Wandel seiner Partei, der er seit Jahrzehnten angehört und für die er sich auch lokalpolitisch eingesetzt hatte. Seinen SP-Austritt hatte er bereits vor dem 7. Oktober bekannt gegeben, und er stellt heute fest: »Die SP als die Partei, die sich für Frauenrechte einsetzt, verurteilt nicht klar und eindeutig die barbarischen Morde und systematischen Vergewaltigungen, die die Hamas am 7. Oktober vollzogen hat. Das ist passiv antisemitisch, feige und keinesfalls mehr tolerierbar.«

Verweigern von Selbstreflexion

Für den 53-Jährigen steht fest: »Für die allermeisten Linken ist es schlicht nicht möglich, dass sie Antisemiten sind. Diese Ignoranz, dieses Verweigern von Selbstreflexion, diese schreiende Ungerechtigkeit, die uns Juden niederschwellig entgegengebracht wird – gerade von der vermeintlich und angeblich gerechtigkeits- und humanistisch orientierten Linken – beschäftigt und betrübt mich stark.«

Ascher, Bloch und Einhaus sind überzeugt, dass der 7. Oktober nicht nur für sie, sondern auch für viele andere politisch links denkende Menschen in der Schweiz und in Europa eine Zäsur darstellt.

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