Shuly Rubin Schwartz, seit Anfang Juli Kanzlerin des Jewish Theological Seminary (JTS) in New York, hat sich nicht um ihren neuen Job beworben. Als Provost saß sie vielmehr im 20-köpfigen Besetzungskomitee für die Stelle an der Spitze der ältesten Hochschule für konservative Rabbiner und Führungskräfte in den Vereinigten Staaten.
Rubin Schwartz beeindruckte Kollegen mit Intelligenz und Kompetenz. »Sie hat in den Bewerbungsgesprächen einfach die besten Fragen gestellt«, sagt Rabbiner Stewart Vogel, spiritueller Leiter von Temple Aliyah in Woodland Hills in der Nähe von Los Angeles.
bedenkzeit Als Mitte März nach mehr als einem Jahr der Suche kein geeigneter Kandidat gefunden war, fragte der Vorsitzende des Board of Trustees, ob Rubin Schwartz die Aufgabe übernehmen wolle. Diese war von dem Vorschlag überrascht und bat sich Bedenkzeit aus. »Ich habe mich zu keinem Zeitpunkt als Bewerberin gesehen«, sagt sie – auch nach mehreren Monaten noch merklich verwundert.
Das unverhoffte Angebot kam, als die Coronavirus-Pandemie über New York hereinbrach und das Suchkomitee in eine Zwangspause ging. Rubin Schwartz leitete die Umstellung des Lehrbetriebes auf Fernunterricht. Nach Pessach im April teilte sie ihren vormaligen Kollegen dann mit, dass sie die Herausforderung annehmen werde.
»Ich hatte in den vergangenen 30 Jahren diverse Führungspositionen beim JTS inne und konnte ein tiefgehendes Verständnis für die Institution und für die jüdische Gemeinschaft in Amerika entwickeln«, sagt Rubin Schwartz. »Außerdem habe ich Vorstellungen zur Entwicklung des JTS.«
PRÄGUNG Die Geschichte ihrer Familie ist über vier Generationen eng mit der Organisation verwoben. Der Großvater der neuen Kanzlerin ging vor 100 Jahren dort aufs College. Shuly Rubin Schwartz’ Vater erhielt seine Smicha von der Rabbinerschule, ebenso wie ihr mittlerweile verstorbener erster Ehemann. Einer ihrer Söhne ist ebenfalls JTS-Rabbiner.
Schon ihr Großvater ging vor 100 Jahren auf das College des Seminars.
Shuly Rubin Schwartz wuchs in Long Island, New York, auf. Ihr Vater, Rabbi Mordecai Rubin, leitete das Wantagh Jewish Center. Die Liebe zum Judentum wurde in der religiösen Familie praktiziert und gepflegt. »Wir lernten und lebten jüdisch«, erinnert sich Rubin Schwartz. Mit ihrer Mutter sprach sie Hebräisch.
Nach der Grundschulzeit auf der Jeschiwa besuchte sie eine öffentliche Highschool und begegnete dort mehrheitlich nichtjüdischen Mitschülern. »Diese Erfahrung öffnete mir die Augen und erweiterte meinen Horizont«, erinnert sie sich. »Ich wurde noch dankbarer dafür, dass ich neben der wunderbaren nichtreligiösen Welt eine solch reichhaltige und profunde jüdische Tradition habe, die mir gehört.«
Trotz der familiären Prägung sei es ihr nie in den Sinn gekommen, selbst Rabbinerin zu werden, erzählt Rubin Schwartz. »Ich war sehr an jüdischer Geschichte interessiert und wollte auf andere Weise dienen.«
WISSENSCHAFT Ihren späteren Ehemann lernte sie in einem konservativ-jüdischen Summer Camp kennen. Sie heirateten, während sie Geschichte studierte und er seine Rabbinerausbildung absolvierte. Das Paar hat vier Kinder. »Ein Rabbiner in der Familie war genug«, sagt sie schmunzelnd. »Die Idee einer Rabbiner-Doppelspitze war mir unheimlich.«
Als Shuly Rubin Schwartz in den 70er-Jahren ihr Studium begann, waren die Türen zum Rabbinat für Frauen im konservativen Judentum noch geschlossen. Erst 1985 wurden sie zum Rabbinatsstudium zugelassen. In ihrem Jahrgang seien einige ambitionierte und talentierte Frauen gewesen, die gerne diesen Weg eingeschlagen hätten, erinnert sich Rubin Schwartz. Sie fragte sich damals: »Es müsste doch schon immer intelligente und talentierte Frauen gegeben haben, die Rabbiner werden wollten. Wo sind sie? Warum wissen wir nichts über sie?«
Die Wissenschaftlerin kam zu dem Schluss, dass viele dieser Frauen einen Rabbiner heirateten, um an dessen Seite Einfluss und Status zu gewinnen. »Für viele Frauen war das der beste Weg, so etwas Ähnliches wie Autorität zu erlangen und die jüdische Gemeinschaft positiv zu beeinflussen«, fasst Rubin Schwartz zusammen.
rebbetzin Ihre Forschungsergebnisse, gepaart mit der eigenen Erfahrung als Tochter und Frau eines Rabbiners, verarbeitete die Historikerin in einem Buch über das Phänomen der Rebbetzin, die Frau an der Seite eines Rabbiners.
Sie selbst habe diese Rolle gerne ausgefüllt, als ihr Mann, Rabbi Gershon Schwartz, Gemeinden in Long Island leitete. Gleichzeitig sei es ihr aber wichtig gewesen, eine eigenständige Karriere als Akademikerin aufzubauen.
Rubin Schwartz ist sich der Bedeutung ihrer Amtsübernahme als erste Frau an der Spitze der 134-jährigen, von Männern geprägten Institution bewusst.
Rubin Schwartz ist sich der Bedeutung ihrer Amtsübernahme als erste Frau an der Spitze der 134-jährigen, von Männern geprägten Institution bewusst. »Wenn man sich die lange Geschichte des Judentums ansieht, sind Frauen in Führungspositionen eine relative Neuerscheinung«, sagt die Historikerin.
GENERATION Rabbinerin Debra Newman Kamin gehört zur ersten Generation konservativer Rabbinerinnen. Kurz nach ihrer Smicha im Jahr 1990 trat sie eine Stelle in der Am-Yisrael-Gemeinde in Chicago an. Vier Jahre später übernahm sie als erste Frau im konservativen Judentum die alleinige Leitung der etwa 400 Haushalte zählenden Synagoge.
»Ich kann mir nicht mal ausmalen, wie wunderbar es gewesen wäre, damals schon mehr Frauen in der Leitung des JTS zu sehen«, sagt die Rabbinerin, die bis vor Kurzem Vorsitzende der Rabbinical Assembly war, einer internationalen Organisation für konservative Rabbiner.
Sie ist die erste Frau an der Spitze der 134 Jahre alten Institution.
Rubin Schwartz, die fast ihren gesamten akademischen und beruflichen Werdegang beim JTS verbracht hat, übernimmt die Führung der historischen Einrichtung in einer Zeit der pandemiebedingten Unsicherheit. Sie bemüht sich, Herausforderungen als Chancen für positive Veränderungen zu betrachten.
»Durch Fernunterricht konnten wir unsere Reichweite ausdehnen, sodass Menschen, die nach unserer Ausprägung des Judentums dürsten, aber vorher keinen Zugang hatten, weil sie in Berlin, in Omaha, Nebraska, oder in Australien leben, aktiv an unseren Veranstaltungen teilnehmen können.« Daran sehe man, findet Shuly Rubin Schwartz, dass das konservative Judentum dem Einzelnen und der Gesellschaft viel zu geben habe.