Auf dem Tisch steht eine Knetmaschine. An zwei geschäftigen Händen klebt Mehl. Sie mischen Hefe mit Wasser und fügen sie der Schüssel mit dem Mehl bei. Dann den Rest: Wasser, Öl und Salz. Die beiden Hände wissen genau, was sie zu tun haben, wenn sie Challot backen.
Es sind die Hände von Beatrice Wyler. Wie jeden Freitag bereitet die Bewohnerin des Beth-Chana-Heims die Schabbat-Zopfbrote zu – für sich, ihre Mitbewohner und für ihren Mann Geri Naphtaly.
Der muss an diesem Morgen mit seinem Betreuer zum Arzt. Doch der Termin hat sich verzögert. Beatrice fängt an, sich Sorgen zu machen. »Hoffentlich ist alles in Ordnung. Wir wollen später in Ruhe zusammen zu Mittag essen.« Ohne Geri, der eigentlich Gerard heißt, kann sich Beatrice ihr Leben nicht mehr vorstellen. Er ist ihre große Liebe, sie seine. Für diese Liebe mussten die beiden lange kämpfen. Und mit ihnen auch die Heimleitung, durch die es erst möglich wurde, dass Beatrice und Geri heiraten konnten – sowohl zivil als auch religiös unter der Chuppa.
Ein normaler Abschiedskuss
Etwas früher an diesem Freitagmorgen: Bevor Geri mit seinem Betreuer in Richtung Innenstadt aufbricht, gibt er Bea, so nennt er seine Frau, einen Kuss. Es ist ein normaler Abschiedskuss und vielleicht doch kein ganz gewöhnlicher Kuss. Dass die beiden ein Paar sind, ist ebenfalls das Normalste auf der Welt und trotzdem nicht alltäglich.
Denn Geri und Beatrice leben beide mit einer kognitiven Beeinträchtigung. Das ist auch der Grund, weshalb sie im »Beth Chana« wohnen, Beatrice bereits seit 40 Jahren, Geri seit etwa zehn. Das jüdisch geführte Heim am Fuß des Zürichbergs ist das einzige seiner Art in der Schweiz. Es wurde 1977 gegründet und bietet Menschen mit einer geistigen oder leichten körperlichen Behinderung ein Zuhause.
Ohne Geri kann sich Beatrice ihr Leben nicht mehr vorstellen.
Beatrice ist fast von Anfang an dabei, davor lebte sie zwischendurch auch einmal allein in einer Wohnung. »In dieser Zeit lernte ich das Backen«, erinnert sie sich. Auch heute backe sie noch gern Kuchen, Kekse oder wie an diesem Freitagmorgen die wöchentlichen Challot. Beatrice ist in einer religiösen Familie mit zwei Schwestern, einem Bruder und einer Halbschwester aufgewachsen. Bis heute halte sie Schabbat, besuche jeden Samstagmorgen den Gottesdienst.
Geri mittlerweile auch, er ist in einem weniger religiösen Haus groß geworden, aber geht inzwischen gern in die Synagoge. »Durch Bea bin ich ein wenig religiöser geworden«, sagt er schmunzelnd. Geri spricht nicht viel. Aber er strahlt. Insbesondere wenn er von den gemeinsamen Aktivitäten mit Beatrice erzählt. Sie würden viel zusammen unternehmen, entweder gemeinsam mit den anderen Bewohnern oder zu zweit.
Spazieren, Eis essen, Zirkus und Kino
Manches machen die beiden auch über Insieme, eine Schweizer Organisation, die sich um die Bedürfnisse von Menschen mit Beeinträchtigung kümmert. So gehen Beatrice und Geri nicht nur spazieren oder Eis essen, sondern ab und an in den Zirkus, ins Kino. »Was für mich anstrengend ist, weil ich Untertitel lesen muss«, wirft Beatrice ein.
Oder sie gehen tanzen. »Ja, das finden wir beide toll«, sagt Geri. Das Strahlen in seinen Augen, wenn von der Disco die Rede ist, lässt vergessen, dass er in ein paar Monaten 70 wird. Auch seiner Frau sieht man das Alter kaum an. Ihr dichtes, angegrautes Haar, das sie kurz trägt, täuscht darüber hinweg, dass sie schon 71 ist. Auch sie hat ein Funkeln in den Augen, vor allem dann, wenn sie sich an die Hochzeit erinnert.
Beatrices sehnlichster Wunsch ging vor anderthalb Jahren in Erfüllung: »Seit ich 20 Jahre alt bin, wollte ich heiraten. Alle um mich herum haben im Laufe der Zeit geheiratet. Zuerst die eine Schwester, dann die andere. Das tat mir irgendwann weh. Ich wollte genauso sein wie die anderen. Nur weil ich beeinträchtigt bin, heißt das nicht, dass ich nicht heiraten kann. Aber wen? Für mich war immer klar: Ich will niemanden heiraten, der nicht jüdisch ist. Vor einigen Jahren lernte ich Geri in unserer Werkstatt kennen. Es war Liebe auf den zweiten Blick. Später hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten möchte. Heute ist er mein Traummann.«
Geri und Beatrice sitzen an einem Tisch im Aufenthaltsbereich. Sie haben immer denselben Tisch. Andere Heimbewohner kommen herein, sagen Hallo, suchen etwas, gehen wieder hinaus. Geri und Beatrice sind so etwas wie eine Konstante in diesem Moment. Vielfach auch schweigend. Aber sie halten sich fest die Hand, wie sie das oft tun.
»Als nicht normal abgestempelt«
Dann ergreift Beatrice aus der Stille heraus wieder das Wort. Das Reden fällt ihr manchmal leichter, manchmal etwas schwerer, auch die Wörter sind nicht alle gleich deutlich, aber sie schafft es, jeden Satz zu Ende zu bringen: »Es gab Zeiten in meinem Leben, da wurde ich als nicht normal abgestempelt. In anderen Heimen war das früher manchmal so. Dann sagten sie mir: ›Sonst musst du halt gehen.‹ Ich wollte nicht gehen. Das hatte mich immer sehr beschäftigt. Hier wirft mich zum Glück niemand raus. Hier habe ich mein Zuhause gefunden, wo ich ein normales Leben führen kann.«
Damit meint Beatrice auch ein Leben als verheiratete Frau. Dieser Status der verheirateten Frau ist ihr sehr wichtig. Seit das Paar verheiratet ist, wohnen die beiden gemeinsam in einem Zimmer. Gegessen wird unten im großen Aufenthaltsbereich, der liebevoll dekoriert ist. Die vielen Fenster lassen den Blick nach draußen schweifen, in den Garten über die umliegenden Dächer bis hinunter zum See. Man könnte meinen, es sei eine Postkartenansicht. Doch die Menschen, die hier leben, nehmen sie kaum mehr wahr. Die meisten der aktuell 13 Bewohnerinnen und Bewohner sind viel mit sich selbst beschäftigt. Und doch herrscht eine friedliche Atmosphäre.
Zu ihrer Hochzeit war es deutlich lauter und geschäftiger. »Sie war ein Glücksmoment für mich«, erzählt Beatrice. »Alle meine Geschwister kamen, auch meine Schwester aus Israel. Das Schönste war, oben zu stehen und alle Gäste zu sehen. Und kaum war das Glas zerbrochen, fingen alle an zu tanzen.«
Dass dieser zauberhafte Moment möglich wurde, dafür hat sich vor allem einer starkgemacht: Gabriel Gutmann, der Bereichsleiter Jüdisch im Wohnheim. »Es war nicht von Anfang an klar, ob eine Hochzeit in diesem Kontext überhaupt stattfinden kann. Es stellten sich neben halachischen auch zivilrechtliche Fragen«, erzählt er und setzt sich für einen Moment zu Beatrice und Geri an den Tisch.
Anfangs stieß das Paar auf Widerstand
»›In diesem Alter noch zu heiraten – ist das überhaupt nötig?‹, hörte ich Leute aus dem näheren Umfeld der beiden sagen. Auch die Familie konnte sich eine Hochzeit nicht vorstellen. Aber ich fragte zurück: ›Warum nicht? Wenn sich zwei Menschen lieben, sollte man sich ihnen nicht in den Weg stellen.‹« Nicht nur bei der Familie stieß das Paar anfangs auf Widerstand, auch Geris Beistand sprach sich zuerst gegen eine Hochzeit aus.
»Gabriel hat sich sehr für uns eingesetzt, damit wir heiraten konnten«, ergänzt Beatrice. Der Bereichsleiter musste einiges an administrativem Aufwand erledigen, so auch verschiedene Gutachten für die beiden einfordern. »Aber zum Vorgespräch beim Rabbiner seid ihr ohne mich gegangen.« Die beiden nicken. Dort habe sie der Rabbiner über alle wichtigen Details einer jüdischen Hochzeit in Kenntnis gesetzt. »Auch dass ich zuvor in die Mikwe gehen muss. Davor habe ich mich ein wenig gefürchtet. Aber es ging alles gut.«
Die Hochzeit konnte dann vorletzten Sommer endlich stattfinden. Nach einer kleinen Verlobungsfeier und schön angefertigten Einladungskarten war es am 11. Juni 2023 so weit. Beatrice wurde an jenem Morgen geschminkt, ihr Haar zurechtgemacht – und endlich durfte sie ihr lang ersehntes Kleid anziehen. Auch Geri, der sonst gern auch mal ein Hardrock-Konzert besucht, putzte sich mit Frack und Zylinder feierlich heraus.
Wie es sich für eine traditionell jüdische Hochzeit gehört, wurden sie einzeln zur Synagoge gebracht, jeder mit seinen Begleitern. Da ihre Eltern nicht mehr leben, wurden sie jeweils von einem ihrer Geschwister und einem Heimangestellten zur Chuppa geführt. Die Musik fing an zu spielen, der Chasan sang. Es war jener Moment einer Hochzeit, an dem für kurze Zeit die Welt stillsteht. Beatrice lief siebenmal um Geri, so wie es bei einer jüdischen Hochzeit üblich ist. Getraut wurden die beiden von Rabbiner Noam Hertig, bei dem sie auch zum Vorgespräch gewesen waren.
»Es war so lebendig, die Musik so schön!«
»Es war so lebendig, die Musik so schön!« Geri kommt noch heute ins Schwärmen. »Dass so viele Leute für uns hierherkamen.« Das Fest im Anschluss an die Chuppa fand im Garten vom »Beth Chana« statt. »Eine fast toskanische Hochzeit mitten in Zürich«, sagt Gabriel Gutmann, der, so könnte man sagen, der »Weddingplanner« der beiden war. Er hatte sich auch um die Organisation der zivilen Eheschließung gekümmert, die ein paar Monate zuvor im Züricher Stadthaus stattfand.
Das Interesse an der Hochzeit von Beatrice und Geri war so groß, dass ein Team des Schweizer Radios und Fernsehens (SRF) die beiden für einen Film begleitete. Demnächst wird die Doku ausgestrahlt.
Geri kommt ins Schwärmen, wenn er an die Hochzeit denkt.
Vermutlich wird der Film auch dem Heim etwas Bekanntheit verschaffen. »Viele kennen uns nicht, obwohl diese Institution seit fast einem halben Jahrhundert existiert«, sagt Peter Goldstein vom Verein, der das Wohnheim trägt. »Auch in religiösen Kreisen sind wir nicht allzu bekannt. Dabei sind wir komplett koscher ausgerichtet, feiern alle Feiertage und sind auch von der Stadt als soziale Einrichtung akkreditiert.«
Von den aktuellen Bewohnerinnen und Bewohnern stammen fast alle aus der Schweiz, eine Person aus der Ukraine, zwei aus Deutschland. Geri und Beatrice kommen beide aus Zürich, wo sie geboren und aufgewachsen sind. Beatrice kam allerdings schon als junges Mädchen ein bisschen um die Welt. Ihren Eltern gehörte eine Ferienwohnung in Jerusalem, so spricht sie auch ein wenig Hebräisch.
Flitterwochen in Israel
Eigentlich wollte das frisch vermählte Paar für die Flitterwochen nach Israel reisen. Doch der Krieg machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. »Vielleicht später irgendwann«, sagt Beatrice. Sie wirkt müde, das viele Sprechen erschöpft sie. Manchmal lässt sie sich durch das Geschehen im Raum ablenken. Irgendwann müssen die Challot in den Ofen. Dann ist sie wieder ganz präsent.
Sie erinnert sich, wie sie zusammen mit Geri einige Wochen nach der Hochzeit den jüdischen Friedhof am Züricher Friesenberg besuchte. »Ich konnte Geri meinen Eltern nie vorstellen. Aber sie sollten erfahren, dass ich verheiratet bin.«
Beatrice Wyler und Geri Naphtaly sind eines von wenigen Paaren mit Beeinträchtigung, das sich das Jawort gegeben hat. Vielleicht werden es eines Tages mehr. Die beiden haben gezeigt, dass es möglich ist – allen Widerständen zum Trotz.