»Manchmal fängt während des Unterrichts eine Sirene an zu heulen, aber wir lernen weiter und unterbrechen auch das Gebet nicht«, sagt Chaim Uri Pavlovsky, ein Toralehrer aus Kiew. In den frühen Tagen des Krieges wurden viele Menschen aus der Hauptstadt evakuiert, aber zwei Monate später, als klar wurde, dass die Russen die Stadt nicht einnehmen würden, begann Pavlovsky, die Idee zu verfolgen, ein Kollel zu eröffnen.
Während des Krieges erschien die Idee vielen verrückt, und doch ließ der Lehrer sie Wirklichkeit werden. Er bekam Hilfe von Spendern einer religiösen Gemeinde, die alle gegangen waren und eine leere Synagoge hinterlassen hatten.
Zunächst begann es in Kiews historischem jüdischen Viertel Podil mit Kursen für bis zu vier Personen. »Ich hätte nie gedacht, dass es mehr werden würden«, gibt Pavlovsky zu, »aber jetzt habe ich 13 Schüler, und es werden, so Gott will, bald 20 sein.«
BESCHUSS Am Anfang konzentrierte sich der Toralehrer auf Ältere, aber es kamen auch Gemeindemitglieder mittleren Alters. Inzwischen ist der Jüngste 36 Jahre alt und der Älteste 75. Es war nicht einfach während der Zeit des massiven Beschusses der Stadt und der Stromausfälle, aber der Unterricht wurde bewusst so gelegt, dass die Schüler bei Tageslicht lernen konnten.
Donnerstags und sonntags beschäftigen sich die Männer mit den Kommentaren des mittelalterlichen Gelehrten Ramban zum Wochenabschnitt aus der Tora, mittwochs mit dem Talmudtraktat Megilla und am Dienstag mit den Schabbatgesetzen. Im Kollel werden die Studenten verpflegt und erhalten am Ende des Monats ein kleines Stipendium.
Pavlovsky schätzt, dass seit Kriegsbeginn bis zu 80 Prozent der religiösen Juden, darunter auch Rabbiner, Kiew verlassen haben. »Inzwischen mangelt es gelegentlich an Betern, die aus der Tora lesen können«, sagt er, aber die meisten Synagogen bekämen zumindest für Schacharit immer einen Minjan zusammen.
jeschiwa-Programm Pavlovsky, der in den vergangenen vier Jahren an der Kiewer Brodsky-Synagoge gearbeitet hat, konzentriert sich auf das Jeschiwa-Programm. Sein Arbeitstag geht von elf bis 23 Uhr, und es ist nicht nur der Kollel-Unterricht.
Er erzählt, wie sie in den härtesten Novembertagen, als Kiew ohne Strom war, die Dunkelheit mit Schabbatkerzen vertrieben haben. Sie waren die einzige Lichtquelle. »Ich holte einen Schlafsack hervor, der Minustemperaturen aushielt. Den hatte ich mir extra für Sukkot gekauft.« Er habe geholfen, um die Kälte abzuwehren. »Wenn du weiter Tora lernst, wird das Leben besser«, sagt er und fügt hinzu, dass seine Männer trotz aller Probleme und obwohl der Verkehr manchmal unterbrochen war, auch während der Blackout-Zeit weiter am Unterricht teilnahmen.
Voller Sehnsucht erinnert sich Pavlovsky an die friedlichen Zeiten. »Aber jetzt ist Krieg, also muss man mehr tun, als das Gesetz verlangt«, sagt er. Deshalb muss er jeden Tag so leben, als wäre es sein letzter.
schule Anders als Pavlovsky muss Irina Friedman, stellvertretende Direktorin der jüdischen Schule von ORT in Kiew, nicht nach Schülern suchen. Sie hat 42 Klassen mit insgesamt mehr als 1300 Schülern. »Die Hälfte nimmt von zu Hause aus per Zoom am Unterricht teil, die andere Hälfte kommt täglich in die Schule«, sagt Friedman.
Ob die Kinder vor Ort oder von zu Hause lernen, entscheiden die Eltern. In jeder Klasse gibt es beides, die Lehrer unterrichten in zwei Schichten. In der Regel besteht die erste Schicht aus Kindern, die in der Ukraine geblieben sind, die zweite aus denen, die das Land verlassen haben.
Der Unterricht wird so gelegt, dass die Schüler bei Tageslicht lernen können.
Es gebe eine kontinuierliche Abwanderung von Klasse zu Klasse, und manche wechseln vom Homeschooling zum Präsenzunterricht, weil es zu Hause keinen Strom gibt, erzählt Friedman. »Aber auch in der Schule ist das manchmal der Fall.«
luftalarm Selbst bei Luftalarm wird versucht zu unterrichten. »Wenn die Sirenen ertönen, gehen wir alle in den Luftschutzraum, wo es aber häufig angesichts der Anzahl der Kinder und des Lärms unmöglich ist zu unterrichten. Die Anzahl der Schüler wird immer durch die Kapazität eines Luftschutzbunkers vorgegeben – das ist gesetzliche Vorschrift. »Wie ein Schultag aussieht, lässt sich nicht voraussagen: Manchmal ist mehrere Male am Tag Alarm, dann gibt es eine Pause, gefolgt von einem neuen massiven Angriff.«
An Tagen ohne Strom können die Lehrer nicht online gehen, und die Schüler können sich zu Hause nicht mit Zoom verbinden, sodass der Unterricht zeitversetzt stattfinden muss.
Die Lehrer arbeiten grundsätzlich ohne freien Tag. Und sie haben fast immer zu tun, da die Stromausfälle in der Regel während der Schulzeit auftreten. Irina Friedman bewundert ihre Kollegen, die unter solchen Bedingungen, wie sie sagt, »das Unmögliche« schaffen: »Wenn der Strom wiederkommt, rennen sie nicht los, um Essen zu kochen, sondern schreiben Unterrichtsstunden auf oder verschicken Hausaufgaben.«
BINNENFLÜCHTLINGE Die Zahl der Schüler hat sich in den vergangenen Monaten kaum verringert. Diejenigen, die nach Europa gegangen sind, lernen aus der Ferne, um ein ukrainisches Zeugnis zu erhalten. Und nachdem einige wenige nach Kriegsbeginn in die USA oder nach Kanada gegangen sind, hat die Schule etliche Binnenflüchtlinge aus anderen Städten aufgenommen, in denen die Situation noch schlimmer ist als in Kiew.
Auch einige neue Lehrer sind Binnenflüchtlinge. Sie ersetzen Lehrer, die weggegangen sind, und unterrichten weiterhin alle jüdischen Fächer wie Geschichte, Tradition oder Hebräisch. Und für andere werden über Zoom Kollegen aus Israel zugeschaltet. »Der Unterricht kann in allen Fächern weitergehen«, sagt Irina Friedman und atmet auf.