Belgien

Leben mit der Angst

Stark bewacht: Polizisten und Soldaten vor einer jüdischen Schule in Brüssel Foto: dpa

Der Schrecken ist allgegenwärtig. Auch dann, wenn gar nichts passiert. Zum Beispiel, wenn die Metro, die einen Angestellten morgens ins Büro bringt, den Bahnhof nicht mehr anfährt, an dem der Angestellte gewöhnlich aussteigt. Er muss einen kleinen Umweg gehen. Solche Veränderungen sind symptomatisch für die Rückkehr Brüssels zu dem, was man Realität nennt nach den verheerenden Anschlägen des 22. März.

Vielen, die vor einigen Jahren neu in die Stadt kamen, war nicht bewusst, welche Rolle Brüssel in den dschihadistischen Netzwerken spielt. Das änderte sich im Mai 2014 nach dem Terroranschlag auf das Jüdische Museum und einmal mehr nach den Pariser Anschlägen im vergangenen Jahr. Seitdem stehen bewaffnete Soldaten vor Brüssels Synagogen. Inzwischen sieht man sie überall. Die Bedrohung sei jetzt noch intensiver und direkter, sagen viele Juden. Doch kann – und will – man nicht den ganzen Tag in Angst verharren und sich nicht mehr aus dem Haus trauen.

Nach den Pariser Anschlägen hatte Brüssels Oberrabbiner Albert Guigui in einem Interview gesagt, die Gemeindemitglieder fühlten, es gebe in Europa keine Zukunft für sie. Viele erleben jetzt zum ersten Mal, dass die besondere Situation von Juden überhaupt wahrgenommen wird. Nichtjüdische Belgier empfinden neuerdings Empathie. Sie sagen: »Vor euren Schulen stehen ja schon seit zwei Jahren Soldaten!«

Zielscheibe »Diesmal war nicht die jüdische Gemeinschaft die Zielscheibe. Die Anschläge waren allgemein gegen die liberale Gesellschaft gerichtet«, erklärt Yossi Lempkowicz, Chefredakteur der Nachrichtenagentur European Jewish Press. Die Situation sei undeutlich, denn einige Täter sind noch auf der Flucht. »Klar ist aber, dass es am Flughafen bei den Sicherheitsvorkehrungen Versagen gab.« Beängstigend sei auch die Einschätzung, dass dies womöglich erst der Anfang einer Reihe von Anschlägen sei. »Diese von Angst erfüllte Atmosphäre spürt man in Gesprächen.«

Anders als viele jüdische und nichtjüdische Bewohner der Stadt ist Yossi Lempkowicz ein geborener Brüsseler. Er hat die Entwicklung von innen erlebt, wohnte vor 30 Jahren selbst in Molenbeek, jenem Stadtteil, der als Brutstätte des Islamismus gilt. Damals gab es dort noch jüdisches Leben, eine Synagoge – und Sicherheitsmaßnahmen, sagt Lempkowicz, seien nicht nötig gewesen. Doch die Juden zogen weg, sobald sie es sich leisten konnten – insofern ähnelt Molenbeek vielen anderen Einwanderervierteln. »In den vergangenen Jahren aber liefen die Dinge falsch in Molenbeek«, sagt Lempkowicz, »man hielt Integration nicht für nötig, auch weil viele Politiker die Molenbeeker als Wahlvolk uninteressant finden. Und die Behörden wollten keinen Ärger mit Islamisten.«

Die Malaise, findet Lempkowicz, ist durchaus hausgemacht, denn jahrelang dominierte der innerbelgische Konflikt der Sprachgruppen die politische Agenda. »Das Geld, das dafür ausgegeben wurde, hätte man lieber in den Ausbau von Sicherheitsvorkehrungen stecken sollen. Der Konflikt zwischen Flamen und Wallonen ist ein kleines Problem, verglichen mit der Aufgabe, die Bürger zu beschützen!«

Sicherheit Auch Robin Sclafani hat in den knapp 20 Jahren, die sie in Brüssel wohnt, einiges an Veränderungen erlebt. Die New Yorkerin ist Direktorin der Organisation CEJI – A Jewish Contribution to an Inclusive Europe. Schon seit dem Anschlag auf das Jüdische Museum 2014 hätten sie und ihre Mitarbeiter sich nicht mehr sicher in der Stadt gefühlt, sagt sie. »Danach haben wir unsere Sicherheitsvorkehrungen erhöht, was sich auf unseren Alltag auswirkt.« Seit den Pariser Anschlägen sei es nun für belgische Behörden »unmöglich, das chronische Problem des radikalen Islamismus zu verneinen«.

Jahrelang, so Sclafani, hätten jüdische Organisationen gewarnt, der Antisemitismus sei der »Kanarienvogel in der Mine«. Dass der Terror die Stadt nun getroffen hat, habe ihre Sichtweise auf das Problem nicht verändert, doch sei die Bedrohung viel näher gekommen. »Jeden Morgen fahre ich, wie so viele Freunde und Kollegen, mit der Metro durch Maelbeek, wo der Terroranschlag geschah«, sagt Sclafani. Was ihre Arbeit betrifft, so hätten die Anschläge sie darin bestärkt, Lehrer und Sozialarbeiter auszubilden, um dem Hass entgegenzutreten und sich für Vielfalt und Respekt einzusetzen.

Sclafani kritisiert, dass sich die belgische Politik Themen wie Segregation, Antisemitismus und Extremismus nicht schon viel früher angenommen hat. Die CEJI-Direktorin zeichnet ein sehr ambivalentes Bild ihrer Stadt: »Eine von Brüssels größten Qualitäten ist auch eine ihrer Schwächen: die Vielfalt von Nationalitäten und Sprachen.« Dies sei ein Grund, warum Sclafani Brüssel ihr Zuhause nennt. »Aber die Stadt ist geteilt – in mehrere unterschiedliche Welten, die nicht miteinander in Kontakt treten und keine gemeinsame Identität haben.«

Demokratie An genau diesem Punkt will auch Philippe Markiewicz ansetzen. Der Anwalt ist Vorsitzender des Consistoire Central Israélite de Belgique (CCIB). Den Terror der Dschihadisten nennt er »einen Krieg gegen unsere Demokratie in Europa«. Alle, sowohl Juden als auch Nichtjuden, seien gefordert, »deutliche Antworten zu geben, um unsere Demokratie zu verteidigen«, sagt er.

Markiewicz, der seit Jahren auch Präsident der jüdischen Gemeinde in Brüssel ist, lobt ausdrücklich die Zusammenarbeit mit den Behörden zum Schutz jüdischer Einrichtungen. Den Tag der Anschläge verbrachte er in ständigem Austausch mit Regierungsvertretern und den Sicherheitsdiensten der jüdischen Gemeinden. Sein Alltag, sagt Markiewicz, sei indes »ganz normal«, und das will er durchaus als Statement verstanden wissen. »Das muss auch so sein, sonst geben wir gegenüber den Terroristen nach.« Es mache ihn stolz, dass »das belgische Volk« trotz allem »schnell wieder auf die Beine gekommen ist«.

Und so will auch Markiewicz, bei aller gebührenden Trauer um die Toten und Sorge um die Verletzten, nach vorne schauen. »Man kann nur dann Vorsitzender einer jüdischen Gemeinde sein, wenn man Hoffnung auf die Zukunft hat. Ohne diese Hoffnung müsste ich mein Amt abgeben.«

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