Ein Loch im Zaun ist der Eingang in ihr Zuhause: Im Zentrum Kapstadts haben etwa zwei Dutzend Obdachlose einen Friedhof in Beschlag genommen – zum Leid der Jüdischen Gemeinde und der Stadtregierung. Zwar werden die Bettler regelmäßig vertrieben, doch kehren sie ebenso regelmäßig zurück.
Die Ruhestätte umfasst einen Häuserblock und liegt im Schatten des Groote Schuur Hospital, jenes Krankenhauses, an dem Christiaan Barnard 1967 die erste Herztransplantation der Welt durchführte. Weil er der älteste der fünf jüdischen Friedhöfe Kapstadts ist, dürfen Trauernde den pflanzenumwucherten Ort nur mit Termin besuchen. Das verschafft der jungen Frau, die anonym bleiben will, die nötige Privatsphäre. »Es gibt kein Bad, keine Toilette. Willst du dich waschen, musst du es da am Eimer tun und dich hinter der Palme verstecken.« Auch die Grabsteine werden zu Duschwänden umfunktioniert. Oder zum Trocknen der Wäsche verwendet. Oder als tragende Wand für die löchrigen Häuschen aus Plastikplanen, Decken und Pappe. Nachdem sie tagsüber Almosen gesucht haben, kochen und schlafen die Obdachlosen nachts zwischen den Toten.
Townships »Jeder hat seinen eigenen Grund, hier zu sein. Es war keine einfache Entscheidung, aber hier bin ich nun«, sagt Unathi Lujabe. Der 32-Jährige wuchs als Waise in Kapstadts Townships auf. Für das Leben auf dem Friedhof entschied er sich, weil er seinen Onkeln und Tanten nicht länger zur Last fallen wollte. Unterdessen gehört er fest zur kuriosen Zweckgemeinschaft, die sich auf dem jüdischen Friedhof zusammengefunden hat: Südafrikaner aus zerbrochenen Familien, Immigranten ohne Visum, Taschendiebe. Sie alle vereinen Armut und ein zerrüttetes Leben.
»Ich habe viele Fehler gemacht, und jetzt lebe ich mit den Konsequenzen«, sagt Mongezi Maziko, der mit 15 Jahren wegen versuchten Mordes verurteilt wurde. Die junge Frau jedoch will die weißen Grabsteine so schnell wie möglich verlassen. »Ich will so nicht leben. Ich möchte ein warmes Haus und meiner Familie abends eine warme Mahlzeit zubereiten.«
»Haus« Viele scheinen sich allerdings an das Leben auf dem Friedhof gewöhnt zu haben. Der Obdachlose Hoosain nennt die Grabstätte mittlerweile sein »Haus«. »Irgendwann müssen wir ohnehin weiter, deshalb sehe ich nichts Falsches daran. Zumindest stehlen wir nichts oder machen etwas kaputt.«
Einen Bezug zum Judentum hat keiner der Obdachlosen. Die wenigsten von ihnen wissen, dass sie an den Gräbern verstorbener Juden kochen, schlafen und duschen. Die Angehörigen der Toten sind sich der Tatsache umso schmerzhafter bewusst. Denn ein Besuch bei den Ahnen kann in Kapstadt zur Herausforderung werden. »Warnung!«, sticht ein Schild vor dem Friedhof ins Auge. »Besuchern wird abgeraten, die Gräber allein zu besuchen. Bitte wenden Sie sich an das Büro und fragen Sie nach Begleitung.«
Der Gang zum Grab der Verwandten bleibt ein Sicherheitsrisiko. Als Südafrikaner kennen Kapstadts Juden zwar Kriminalität, doch die Situation auf dem Friedhof erfüllt auch sie mit Unbehagen. »Es gibt einem zu denken. Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie ihre Familie besuchen wollen und diese Warnungen vorfinden?«, fragt Beryl Baleson, Mitglied einer Kapstädter Synagoge, entrüstet.
Zahlen Knapp 100.000 Juden leben heute in Südafrika – rund 0,2 Prozent der Bevölkerung. Trotzdem sind sie als Minderheit fester Bestandteil der Regenbogennation. Jüdische Friedhöfe sind am Kap im Laufe der Geschichte jedoch zu einem seltenen Anblick geworden. Die ersten Juden kamen als Kartenzeichner ins südliche Afrika. Sie begleiteten im 15. Jahrhundert den Entdecker Vasco da Gama. Erste jüdische Siedler aus Großbritannien ließen sich 1820 nieder, 40 Jahre später bauten sie die erste Synagoge südlich der Sahara. Ab 1880 folgten Tausende Juden aus Litauen, Lettland und im Zweiten Weltkrieg auch aus Deutschland.
Während dieser Umbruchjahre veränderte sich das Gesicht der jüdischen Bevölkerung gravierend. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in fast jedem Dorf jüdische Händler, es gab eine Synagoge und einen jüdischen Friedhof. Heute jedoch leben rund 80 Prozent der Juden Südafrikas in den Großstädten Johannesburg und Kapstadt. In den vergangenen Jahrzehnten entstanden dort etliche jüdische Friedhöfe.
Der Obdachlose Hoosain weiß: »Wir besetzen diese Gründe illegal, aber was sollen wir tun?« Kapstadts Regierung beobachtet die Obdachlosen auf den Friedhöfen zähneknirschend. »Wegen ihrer leichten Zugänglichkeit sind alle Parks und offenen Flächen von Vandalismus und Landstreichern bedroht«, sagte Stadträtin Belinda Walker kürzlich der Tageszeitung Cape Times. Nicht selten führen Sicherheitsfirmen Razzien auf den Friedhöfen durch, beschlagnahmen die Habseligkeiten der Obdachlosen, während diese unterwegs sind, und reißen ihre Schlafplätze nieder.
razzia »Vor ein paar Wochen kam die Polizei und nahm all meine Kleidung und meinen Personalausweis mit sich«, sagt Hoosain. Allerdings dauert es meist keine 24 Stunden, bis sich eine andere Gruppe Obdachloser niederlässt – und wiederum bis zur nächsten Razzia bleibt. »Ich erwarte von meiner Stadtverwaltung, dass sie alle Friedhöfe und anderen heiligen Stätten von Eindringlingen frei hält«, meint Gemeindemitglied David Jacobson. Doch auch er weiß: Das Problem ist weniger krimineller als sozialer Natur. »Klar fühle ich mit den Menschen in dieser Notlage mit. Doch es ist unangemessen, seine Zelte auf einem Friedhof aufzuschlagen.«
Wie viele andere Juden ist auch Jacobson im Zwiespalt. Er schwankt zwischen der Würde der Totenruhe und der Solidarität mit Kapstadts 7000 Obdachlosen. Es liege in der Verantwortung aller Südafrikaner, etwas gegen die Armut zu unternehmen, so Jacobson. Seine Freundin, Heidi-Jane Esakov, pflichtet ihm bei: »Jede Grabstätte sollte respektiert und als unantastbar behandelt werden. Was dieses Problem aber erneut unterstreicht, ist die enorme soziale Ungleichheit, die Südafrika immer noch plagt und die bekämpft werden muss.«