Mitten auf der Wiese versinkt gerade ein riesiges Piratenschiff, so hoch wie ein dreistöckiges Haus. Ein gigantischer Krake nimmt es in die Mangel, während aus dem Bauch des Schiffes Kinderschreie ertönen. Direkt daneben kraxelt eine vielleicht Achtjährige der Spitze eines Vulkans entgegen, aus dessen Krater Lava suppt.
Ein Griff daneben, sie stürzt in die Tiefe und landet hopsend auf einem Luftkissen. Piratenschiff, Vulkan und Krake sind nichts weiter als Hüpfburgen, die vom Getöse schwerer Heißluftgebläse aufrecht gehalten werden. Genau wie eine pralle Matte nebenan, aus deren Mitte Pfähle emporragen. Zwei Grundschuljungen stehen sich hier gegenüber. Mit großen Schaumstoffbällen dreschen sie fröhlich glucksend aufeinander ein, bis ihnen die Kippot vom Kopf fliegen.
Eukalyptusbäume Es ist ein Abend im Dezember. Chanukka. Das Licht der Sonne hat bereits seine blendende Härte verloren, mit der es mittags die Australier grillt. Auf einem Sportplatz in St. Ives im grünen Norden Sydneys herrscht ausgelassene Fröhlichkeit wie bei einem Familienbesuch im Vergnügungspark.
Ein Zauberer bringt Tische zum Schweben. Mädchen lassen sich Schmetterlinge ins Gesicht schminken. Ein Junge spielt mit Dosen, aus denen eine Art Rasierschaum kommt. Als er komplett eingesaut ist, rennt er grunzend über den Platz und reißt dabei die Arme hoch. Schaumfetzen schweben durch die Luft. Junge Männer in Makkabäerkostümen verteilen Lose. Als Hauptpreis winkt ein Elektroauto, was viele der Mädchen mit einem gelangweilten Schulterzucken quittieren. Im Schatten der Eukalyptusbäume sitzen Eltern. Sie lächeln beim Anblick ihrer aufgekratzten Kinder, trinken Cola und beißen in Fettiges vom Grill. Aus Lautsprechern surrt Gitarrenmusik. Das halbe Dutzend Security-Männer tut sein Bestes, um möglichst unsichtbar zu sein.
»Das Wetter ist perfekt«, sagt Rabbi Nochum Schapiro (50), der das Fest im Sportpark mit organisiert hat. »Die Leute genießen den schönen Abend, während wir unter der Menora feiern. Wir können dieses große Fest veranstalten, feiern und haben Spaß.«
Doch trotz aller sommerlichen Ausgelassenheit bleibe auch in Australien die Botschaft von Chanukka sehr melancholisch, sagt Rabbi Schapiro. »Egal, wie schön das Wetter ist, die Welt könnte ein dunkler Ort sein. Deshalb ist es an uns, ein Licht anzuzünden und die Dunkelheit zu vertreiben.«
Viel Zeit hat der Rabbiner an diesem Abend nicht. Immer wieder schüttelt er Gemeindemitgliedern die Hände, fragt, wie es der Großmutter geht oder warum man denn im vergangenen Monat nicht beim Gottesdienst war. Der informelle Rahmen lockt viele aus der Gemeinde an. Es ist ein Kommen und Gehen. »Insgesamt haben sich bestimmt 600 Leute hier blicken lassen«, sagt Rabbi Schapiro zufrieden. Die Zahl scheint zwar etwas optimistisch veranschlagt, aber der Park ist weitläufig, und wer weiß schon genau, wie viele Kinder gerade in den Ritzen der Hüpfburgen stecken und kreischen.
Eine Wolke aus Akzenten und Dialekten schwebt durch die Luft. »Viele in unserer Gemeinde haben Wurzeln in Südafrika oder sind aus Israel hergezogen«, sagt Schapiro. Er selbst kam vor 26 Jahren aus New York. Auch Russisch und Spanisch sind auf dem Fest hier und da zu hören. Die kleine orthodoxe Gemeinde in St. Ives ist damit keine Ausnahme. Fast alle Gemeinden im Land sind ein Potpourri der unterschiedlichsten Herkunftsländer. Nachfahren von Einwanderern in der dritten, vierten oder fünften Generation gehören meist genauso dazu wie Neuankömmlinge.
Einwanderung Die Geschichte des Judentums in Australien beginnt schon mit Captain Arthur Phillip und der »First Fleet«, der ersten Flotte, jenen neun Schiffen, die im Januar 1788 in Botany Bay ankerten.
Unter den 753 verurteilten Straftätern aus England waren auch mindestens acht Juden. Eine von ihnen, Esther Abrahams, eine 18-jährige Hutmacherin, war dabei erwischt worden, wie sie auf einem Marktplatz Spitze stahl. Ihr Schicksal scheint exemplarisch für viele Menschen, die als Strafgefangene England für immer verlassen mussten. Unter ihnen waren kaum Schwerverbrecher, sondern vor allem einfache Diebe und andere Kleinkriminelle. Für die britische Krone war es billiger, sie ans Ende der Welt zu verschiffen, als sie zu Hause ins Gefängnis zu sperren. Eine überaus zynische Strafe, schließlich scheint allein der Gedanke an eine Überfahrt zu einem unerforschten Kontinent wie der Weg in den sicheren Tod.
Tatsächlich dauerte es Jahre, bis die Siedler auf der trockenen Erde vernünftig Landwirtschaft betreiben und sich selbst versorgen konnten. Die krummen Eukalyptusbäume waren zum Bauen von Häusern nach europäischem Vorbild völlig ungeeignet, weshalb England die neue Kolonie sogar mit Baumaterial versorgen musste.
Viele der einheimischen Tiere waren gefährlich. Zudem eskalierten regelmäßig die Zusammenstöße mit den Einheimischen, die sich gegen die Verdrängung wehrten. Esther Abrahams erwies sich als zäh, geschickt und durchsetzungsstark. Sie wurde zur Gallionsfigur der sogenannten Rumfass-Rebellion, dem einzigen erfolgreichen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung in der Geschichte Australiens. Am Ende stieg die verarmte Hutmacherin gar zur Frau des Gouverneurs von New South Wales auf.
Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Zehntausende Menschen von England nach Australien verschickt. Darunter waren etwa 1000 Juden, die, wie Historiker schätzen, zumeist aus London stammten. In die Bücher der Schiffe wurden zwar viele Daten wie Alter, Geschlecht oder Details aus den Strafakten der Gefangenen aufgenommen. Angaben zu ihrer Religion fehlen jedoch.
1820 kamen die ersten freien jüdischen Siedler nach Australien, und 24 Jahre später, 1844, wurde in Sydney die erste Synagoge errichtet. Allerdings blieben Juden die Ausnahme in Down Under. Ende des 19. Jahrhunderts soll es unter den fast 3,8 Millionen Einwohnern Australiens nur etwa 15.000 Juden gegeben haben, die fast ausschließlich aus Großbritannien stammten. Die zunehmende Diskriminierung in Europa führte jedoch dazu, dass viele Juden aus Polen, Russland und Deutschland flohen. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Schrecken der Schoa verstärkten die jüdische Einwanderung massiv. Bei der letzten Volkszählung im Jahr 2011 gaben fast 100.000 Australier an, jüdisch zu sein. Etwa eine Million haben jüdische Vorfahren.
Vielfalt Wie vielfältig jüdisches Leben in Australien heute ist, lässt sich nirgendwo besser beobachten als in den östlichen Vororten von Sydney. Zwischen den atemberaubenden Klippen von Vaucluse, den schicken Villen von Rose Bay und dem multikulturellen Bondi gibt es eine Reihe von Synagogen und fast jede Strömung des Judentums.
Eine der ältesten Gemeinden der Gegend trifft sich seit mehr als 77 Jahren in der Emanuel-Synagoge, deren Leitgedanke »Creating Community – Celebrating Diversity« perfekt zum entspannten Lebensgefühl passt, das der berühmte Bondi Beach versprüht. Es verwundert nicht, dass Emanuel besonders bei jungen Menschen sehr beliebt ist. Die Gemeinde wird von zwei Rabbinerinnen und einem Rabbiner betreut. Man bietet ein umfassendes Programm für Kinder und Jugendliche an – sogar Pizza-Abende und Thai-Chi-Kurse, bei denen man Seeluft schnuppern kann, gehören dazu.
Da ist es nur konsequent, dass das letzte Licht der Menora am kommenden Sonntagabend am Strand gezündet wird. Seit einigen Jahren gebe es diese Veranstaltung schon, die ähnlich wie in St. Ives als fröhliches Familienfest angelegt sei, sagt Lisa Shillan, die sich um die Öffentlichkeitsarbeit der Gemeinde kümmert und »Chanukah by the Sea« mit auf die Beine stellt. »Wir werden singen und Chanukkaspiele machen, es wird Sufganiot geben, und wir werden einen Wettbewerb veranstalten, bei dem wir die schönste Sandskulptur suchen.«
Im Vordergrund stehe das Gemeinschaftsgefühl, sagt Shillan. »Jeder soll etwas Vegetarisches zum Essen mitbringen, und wir veranstalten dann ein großes Picknick.« Auf der südlichen Hemisphäre herrsche dabei eine ganz andere Stimmung zu Chanukka als im Norden. »Der größte Unterschied ist natürlich, dass wir Sommer haben, draußen feiern und sogar am Strand sitzen können.« Die melancholischen Züge von Chanukka treten dabei etwas zurück. »Bei uns rückt das Wunder des Festes in den Vordergrund, es wird eher ein Freudenfest«, so Shillan.
Ob »Chanukah by the Sea« ein sonniger Spaß wird oder dieses Jahr ins Wasser fällt, ist noch nicht abzusehen. Der meteorologische Dienst sagt für das kommende Wochenende voraus, es solle »recht durchwachsen« werden und keinesfalls so sonnig und heiß wie am vergangenen Wochenende.
Hebebühne Als in der ersten Nacht von Chanukka kurz nach halb acht die Sonne untergeht, versammelt sich im Sportpark von St. Ives die Gemeinde um die Chanukkia. Die Petroliumkartuschen hängen so hoch, dass extra eine elektrische Hebebühne vorgefahren wird. Während sich Rabbi Schapiro in die kleine Kanzel zwängt, wird die Musik ausgeschaltet. Der Trubel ebbt ab. Im Halbkreis stehen die Familien beieinander.
Nachdem das Licht angezündet worden ist, singen alle gemeinsam andächtig und mit erhobenen Stimmen »Ner li, ner li«. Dann werden die großen Gebläse abgestellt. Der Krake und das Piratenschiff fallen in sich zusammen. Der Vulkan kippt um. Entspannte Eltern gehen mit ihren völlig erschöpften Kindern Richtung Parkplatz. Ein kleiner Junge, der zur Hälfte aus Rasierschaum zu bestehen scheint, rennt giggelnd vor seinen Eltern weg. Der Abendwind lässt die Blätter der Eukalyptusbäume rascheln. Ein paar Kakadus krächzen im Geäst. »Happy Chanukah«, sagt ein Mann in kurzen Hosen zum Abschied.