»Das Land hat in Westeuropa einen üblen Ruf. Der wohlfeile und faule Witz des zivilisierten Hochmuts bringt es in eine abgeschmackte Verbindung mit Ungeziefer, Unrat, Unredlichkeit.« Mit diesen Sätzen begann der Schriftsteller Joseph Roth die Artikelserie über seine Reise nach Galizien, die im November 1924 in der Frankfurter Zeitung erschien.
Roth, der 1894 im knapp 100 Kilometer östlich von Lemberg gelegenen Brody geboren wurde, dem äußersten Vorposten der österreichisch-ungarischen Monarchie, hatte sich zum ersten Mal nach dem Ersten Weltkrieg wieder in seine alte Heimat begeben. Sein Fazit: »Es ist schwer, zu leben. Galizien hat acht Millionen Einwohner zu ernähren. Die Erde ist reich, die Bewohner sind arm«, resümiert Roth.
Ukraine Die Titelseite der Frankfurter Zeitung vom 22. November 1924 ist in der Ausstellung »Mythos Galizien« zu sehen, die noch bis zum 8. März im Internationalen Kulturzentrum (ICC) in Krakau gezeigt wird – und auf ein unerwartet großes Echo stößt. Seit der Eröffnung Mitte Oktober seien rund 15.000 Besucher gekommen, sagt ICC-Mitarbeiterin Helena Postawka-Lech, das Publikum sei sehr belesen und diskussionsfreudig.
Den Erfolg der Ausstellung führt sie auch auf die aktuelle politische Situation zurück: Das östliche Galizien, das in der Ukraine liegt, ist seit der Maidan-Bewegung in den Fokus der Weltöffentlichkeit gerückt. Die Ausstellungsmacher haben noch darauf reagiert. Großformatige Fotos zeigen Maidan-Demonstranten in der westukrainischen Großstadt Lwiw (Lemberg), deren Plakate keinen Zweifel daran lassen, wo sie die Zukunft Ostgaliziens sehen: im Westen.
Fast fünf Jahre haben Experten aus Polen, Österreich und der Ukraine die Ausstellung vorbereitet, in einem manchmal »schwierigen Prozess«, wie Postawka-Lech sagt. Jedes Land habe eben seine eigene Sicht auf den einst multinationalen Landstrich im Herzen Europas, dessen 150-jährige Geschichte schon seit knapp 100 Jahren Vergangenheit ist. Und so nähert sich die Ausstellung in rund 600 Exponaten, von denen einige zum ersten Mal öffentlich zu sehen sind, dem »Mythos Galizien« aus vier Blickwinkeln: dem ukrainischen, dem polnischen, dem österreichischen und dem jüdischen.
k.u.k. Monarchie Als Joseph Roth Galizien bereiste, existierte es bereits nicht mehr: Mit dem Untergang der k.u.k. Monarchie war es 1918 von der Landkarte verschwunden. Bis 1939 war der knapp 80.000 Quadratkilometer umfassende Landstrich – etwas größer als Bayern – zwar noch im wiedergegründeten polnischen Staat vereint, doch nach dem Zweiten Weltkrieg in zwei Hälften geteilt. Die Habsburger hatten sich das Gebiet 1772 mit der ersten Teilung Polens angeeignet und den Namen des alten ukrainischen Fürstentum Halytsch in Galizien umgewandelt.
Natürlich findet auch die jahrhundertelange Geschichte der Juden in der Ausstellung ihren Platz. Im Jahr 1264 hatten sie von einem polnischen Herzog die Ansiedlungsrechte erhalten, 1772 lebten bereits rund 260.000 in Galizien, etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Hier war die Welt der Chassiden und Schtetl und zugleich die des assimilierten Judentums in Städten wie Lemberg und Krakau. Die meisten Juden lebten in einer solchen Armut, dass sie ihre einzige Zukunft im Verlassen des Landes sahen: Allein zwischen 1880 und 1910 wanderten insgesamt 236.504 jüdische Galizier in die Vereinigten Staaten aus.
Doch auch nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich die wirtschaftliche Lage nicht gebessert: »Kukuruza heißen die Maiskolben, die von armen jüdischen Händlern an jene armen Juden verkauft werden, die mit alten Lumpen, Glasresten und Zeitungspapier handeln. So leben die Kukuruzhändler von den Lumpenhändlern. Von wem aber leben die Lumpenhändler?«, schreibt Joseph Roth.
Eines der eindrücklichsten Gemälde in der Ausstellung stammt von dem galizischen Maler Jonasz Stern (1904–1988). Das 1985 angefertigte Bild trägt den Titel »Das Jahr 1941 und 1942 in Kalusch« und zeigt einen Tallit, der sich wie ein Leichentuch über dem Panorama eines brennenden Schtetls in den Himmel erhebt. Von den rund 7000 Kaluscher Juden haben 17 den Holocaust überlebt – Jonasz Stern war einer von ihnen.
Die Ausstellung ist noch bis zum 8. März im ICC Krakau, Rynek 25, zu sehen. Vom 26. März bis 30. August wird sie in Österreich, im Wien Museum, Karlsplatz 8, gezeigt.