Es tut ein bisschen weh, den Retter der Ladino-Musik in der Türkei so zu sehen. Jak Esim, ein 52-jähriger Mann mit schwarzem Schnurrbart, randloser Brille und Stirnglatze, steht vor seinem kleinen Laden, der schlicht »Esim« heißt. Es ist Samstag, Schabbat. Esims Laden liegt in einer etwas heruntergekommen wirkenden Einkaufspassage an Istanbuls bekanntester Fußgängerzone, der Istiklal-Straße, nicht weit vom zentralen Taksim-Platz im europäisch geprägten Stadtteil Beyoglu.
Das Wetter ist trübe, wenig ist auf der Istiklal-Straße los, in der Passage sind alle Geschäfte geschlossen. Esim verkauft Anzüge, Smokinghemden, Fliegen. Und natürlich ist in der Auslage auch ein kleines Foto vom stets exzellent gekleideten Atatürk zu sehen. Darauf sieht man den Gründer der Republik beim Zeitunglesen.
Mag das Ganze auch etwas ärmlich, ja trist wirken, Esim braucht diesen Laden. Er sichert ihm seine Existenz. Seine Leidenschaft aber gilt etwas anderem: der sefardischen Musik der Türkei. Es ist die Musik seiner Kindheit, seines Volkes, die ohne ihn wohl schon gestorben wäre. Denn der Anzugverkäufer Jak Esim ist der größte Experte der sefardischen Musik der Türkei. Und zusammen mit seiner Frau Janet ist er einer ihrer führenden Interpreten.
Diese oft elegische Musik hat eine große Tradition, dennoch ist sie heute bedroht. Nüchtern schätzt Esim: 80 Prozent der einst vorhandenen jüdisch-spanischen Musik dieser Region sei »für immer verloren«. Denn die Leute, die sie noch kannten, spielten oder sangen, sind verstorben. Nur rund 20 Prozent, vermutet Esim, habe er seit den 60er-Jahren in seinem immensen Musikarchiv mit etwa 2.000 bis 3.000 Kompositionen retten können, vieles jedoch nur in Bruchstücken. In den ersten Jahren der türkischen Republik nach 1923 habe das Ladino »und mit ihm auch die Musik ihre letzten Atemzüge genommen«, schrieb Esim vor vier Jahren. »Heute hat sie, abgesehen von den Bemühungen der Interpreten und Forscher, ihre traditionelle Form innerhalb des Volkes verloren.«
sultan Damit versinkt langsam eine reiche Tradition, die 1492 begann, als die blühende jüdische Gemeinschaft durch die katholischen Könige Isabella von Kastilien und Ferdinand II. von Aragon aus allen Territorien der spanischen Krone vertrieben wurde. Wahrscheinlich mehr als 50.000 Flüchtlinge wurden vom ottomanischen Sultan Beyazid II. aufgenommen und siedelten sich im damaligen Konstantinopel an, vor allem im Distrikt Galata. Der tolerante Herrscher soll einmal gegenüber einem seiner Höflinge gesagt haben: »Du nennst Ferdinand einen weisen König? Ein König, der sein eigenes Land beraubt, um meines zu bereichern?« Tatsächlich bereicherte die jüdische Gemeinschaft nicht nur das Wirtschaftsleben des ottomanischen Reiches. Zum Beispiel betrieben die Brüder David und Samuel ibn Nahmias schon 1493 die erste Druckerpresse des Reiches. Auch die in Ladino gesungene Musik der aufgenommenen Juden und ihrer Nachkommen trug über Jahrhunderte zum kulturellen Reichtum des muslimisch geprägten Landes bei. Ein weiteres Beispiel: Der wichtigste sefardische Vorbeter seiner Zeit, Ishak Algazi (1889–1950), galt als einer der bedeutendsten Komponisten und Interpreten klassisch-türkischer Musik. Er soll sogar mehrmals vor Atatürk gesungen haben. Erste Grammophonaufnahmen türkisch-sefardischer Musik gab es schon 1903 – und Jak Esim hat sie natürlich gesammelt.
Mit dem Niedergang des Ladino begann aber auch das langsame Verwehen der jüdisch-spanischen Musik der Türkei: Zum letzten Mal wurde sefardische Musik 1951 aufgenommen, erst viele Jahre später begann Esim zu bewahren, was übrig geblieben war. »Es war die traditionelle Musik in unserer Familie«, erzählt Esim. Von seinem Vater hörte er zunächst erste Aufnahmen der türkischen Ladino-Musik, die er dann systematisch zu sammeln begann. Konkret machte er ungezählte Tonbandaufnahmen vom Instrumentenspiel und Gesang alter Jüdinnen und Juden. »Ich habe 25 Jahre lang alte jüdische Volkslieder gesammelt«, sagt er heute, »jetzt ist niemand mehr da, den ich fragen kann.«
Selbsttrost Neben seiner achtköpfigen Gruppe, in der übrigens nur seine Frau und er jüdisch sind, fallen Esim gerade mal fünf andere Chöre und Bands ein, die heute noch derartige Musik machen. Dazu gehören etwa der Chor »Maftirim Korosu« und die Gruppe »Los Pasaros Sefaradis«. Von der Musik leben aber kann er nicht, sagt Esim. »Ich habe es nie für Geld gemacht.« Es klingt ein wenig nach Selbsttrost.
Esim ist kein Star der internationalen Popszene wie die israelische Sängerin Yasmin Levy, die ebenfalls auf Ladino singt. Aber immerhin kann er mit seiner Band bei Festivals auftreten, wie etwa im Sommer in New York. Oft sind gerade die religiösen Lieder in Ladino populär, weil die jüdische Bevölkerung in der Türkei sie weiterhin nutzt. Auch Esim singt mit seiner Frau diese Lieder, wenngleich in der Melodie etwas verändert – so wie es ein Rabbiner ihnen vorgeschlagen hatte, um die Orginale nicht zu entweihen.
Dennoch: Gäbe es nicht den blinden Akkordeon-Virtuosen Muammer Ketencoglu, der warmherzig über Esim spricht und mit seinem internationalen Renommee die sefardische Musik seiner Heimat fördert, dieser Kultur erginge es wie der Tochter in Jak und Janet Esims Ladino-Lied »Ija Mia Mi Kerida«. Darin singt Jak: »Oh, meine liebste Tochter / eile nicht zum Meer / Das Meer ist so stürmisch / Pass auf! Es wird dich verschlingen!« Und Janet als Tochter antwortet: »Lass es mich nehmen / Hinabziehen in seine Tiefe / Dass ich Nahrung werde für die schwarzen Fische / Das wird mich befreien / Von den bitteren Qualen der Liebe.« Es hat den Anschein, dass in der Türkei die schwarzen Fische des Vergessens bereits nach der Ladino-Musik schnappen.