Menschen schauen einander erschrocken an. Die Augen weit aufgerissen, schweigen die einen, während andere tuscheln und die Köpfe zusammenstecken. Mit schwarzer Tusche nur grob umrissen, verwischen die Konturen von Figuren und Häusern im Hintergrund. Männer, Frauen und Kinder stellen Überlebende im DP-Camp Landsberg 1947 dar. »Gerüchte« heißt dieses Bild von Samuel Bak, mit dem er als Zwölfjähriger seinen eigenen Leidensweg festgehalten hat. Heute beginnt mit dieser Tuschezeichnung der Rundgang durch das neue Samuel-Bak-Museum in der litauischen Hauptstadt Vilnius.
Für den Künstler sei Vilnius stets der wichtigste Ort auf der Welt gewesen, sagt Viktoria Sideraite Alon. Sie ist Designerin und hat den Ausstellungsraum gestaltet. In Vilnius sei Samuel Bak 1933 geboren, erzählt sie, hier habe die Familie große Hoffnungen auf sein künstlerisches Talent gesetzt, aber hier habe er im Holocaust bis auf seine Mutter auch alle Angehörigen verloren.
Sie habe deshalb das Besondere seiner Rückkehr unterstreichen wollen, sagt Sideraite Alon und erklärt so die goldene Unterschrift des Malers und die goldumrahmten Buchstaben seines Namens, die die Besucher am Eingang begrüßen.
wunderkind Gerade einmal neun Jahre alt, machte Samuel Bak bereits im Ghetto von Vilnius auf sein künstlerisches Talent aufmerksam, als er den ersten Preis in einem Malwettbewerb gewann. Die Intellektuellen des Ghettos sammelten daraufhin Papier und Stifte für das »Wunderkind«, um seine Begabung zu fördern.
Eine unschätzbare Rolle spiele das sogenannte »Pinkas-Buch«, sagt Ieva Sadzeviciene, Kuratorin der aktuellen Ausstellung. Es sei ein jüdisches Protokollbuch aus dem 19. Jahrhundert gewesen, in dem jeweils eine Seite unbeschriftet gewesen war. Dieses Buch übergaben die Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft dem kleinen Samuel, damit er Skizzieren und Zeichnen übt. Samuel aber verstand, dass er Zeugnis für die nachkommenden Generationen ablegen muss. Das Buch und er seien untrennbare Freunde geworden, erinnerte sich der Künstler später. »Wenn ich zeichnete, legte ich das Buch auf meine Knie, und wenn ich einschlief, lag es neben mir auf meinem Etagenbett wie eine treue Schirmherrin.«
Samuel Bak zeichnete mit Bedacht und sehr genau, um zu beschreiben, was damals im Ghetto geschehen ist: Gesichter, die verschüchtert, wütend oder wachsam durch Fenster in die Gassen schauen, Soldaten, die vor den Häusern und durch die Straßen des Ghettos patrouillieren.
flucht Vor dem Krieg lebten mehr als 220.000 Juden in Litauen. Die Hauptstadt Vilnius wurde damals liebevoll »Jerusalem des Ostens« genannt. Doch nur die wenigsten überlebten die Schoa. Samuel Bak hatte Glück. Es gelang ihm und seiner Mutter, aus dem Ghetto zu fliehen. Sie wurden von katholischen Nonnen im Keller der Katharinenkirche versteckt. Das wertvolle »Pinkas-Buch« habe er auf der Flucht allerdings im Ghetto zurücklassen müssen, sagt Ieva Sadzeviciene. Gleich nach dem Krieg seien litauische Enthusiasten durch das befreite Ghetto gestreift, hätten nach Dokumenten gesucht und auch das wertvolle Skizzenbuch gefunden.
Sie wollten es dem zwölfjährigen Samuel Bak mitgeben, als er nach dem Holocaust mit seiner Mutter in das DP-Camp nach Deutschland aufbrach. »Er hat mir erzählt, weshalb er das Buch damals nicht annehmen wollte«, sagt Sadzeviciene. »Für ihn klebte Blut an dem Buch, da sein Vater im Arbeitslager gestorben war.«
Auch später habe Samuel Bak immer Distanz zu seinen Zeichnungen aus dem Ghetto bewahrt. Erst nach Litauens Unabhängigkeit 1991 habe er den Mut gefunden, sich seine frühen Zeichnungen wieder anzuschauen. »Ein Archiv hat ihm dann die einzelnen gescannten Seiten per E-Mail nach Hause nach Boston geschickt«, erzählt Ieva Sadzeviciene. »Er war sehr bewegt, dass seine frühen Arbeiten aus dem Ghetto gerettet waren und in litauischen Archiven lagen.«
studium Während seines dreijährigen Aufenthalts im DP-Camp in Landsberg begann der jugendliche Samuel ein Kunststudium an der Blocherer-Schule in München, das er nach der Ausreise 1948 an der Bezalel-Akademie in Jerusalem fortsetzte. Nach seinem Militärdienst in der israelischen Armee studierte er in Paris an der École des Beaux-Arts. Seitdem lebt er an wechselnden Orten: in Italien, den USA, Frankreich, der Schweiz und immer wieder in Israel.
Die Reflexion des Holocaust zieht sich durch sein gesamtes künstlerisches Schaffen. Dass dieser Maler von Weltruhm ausgerechnet Vilnius als Standort für sein erstes eigenes Museum erkoren hat, ehre Litauen sehr, sagt Markers Zingeris. Er leitet das Staatliche Jüdische Gaon-von-Vilnius-Museum und hat eigens für das neue Bak-Museum einen Flügel des Gebäudes zur Verfügung gestellt. »Das erste Samuel-Bak-Museum eröffnet in Litauen und nicht in Israel«, zitiert Zingeris mit stolzem Lächeln die Überschrift einer jüdischen Zeitschrift aus den USA.
Bisher hat Samuel Bak den Litauern 37 seiner Gemälde überlassen, und im Laufe der kommenden Jahre soll die Schenkung um mehr als 100 Bilder erweitert werden. Entsprechend werde auch das »Museum im Museum« wachsen, kündigt Zingeris an. Mehr als 250.000 Euro wolle man investieren, um die reine Kunstausstellung künftig mit einem Bildungszentrum zu verknüpfen, das sich mit Workshops an Jugendliche wie an Erwachsene richten soll.
lichtdesign Doch nicht nur der litauische Staat hat sich für Samuel Bak starkgemacht. »Eine Baufirma hat den Boden kostenlos verlegt, und einige Unternehmen haben uns rund 60.000 Euro geschenkt«, sagt Zingeris. »Dann wurden neue Monitore gespendet, und andere haben Geld für das Lichtdesign aus Italien gegeben.«
Die besondere Lichtgestaltung der Ausstellung stammt aus der Feder von Viktorija Sideraite Alon. Die Designerin fragte sich: Wie kann man die kraftvollen farbigen Bilder präsentieren, ohne ihnen ihre Stärke zu nehmen?
Ihre überzeugende Antwort lautet: »Die Gemälde müssen in absoluter Dunkelheit liegen und dürfen nur einzeln angestrahlt werden. Auch Samuel war bei der Vernissage so glücklich. Er sagte zu mir, er habe seine Werke noch nie so wirksam ausgeleuchtet gesehen.«
Mit nur 170 Quadratmetern ist der Ausstellungsraum eigentlich winzig. Aber da er in tiefem Dunkel gehalten ist, wirkt die Fläche um ein Vielfaches größer, lässt viel Raum zum Atmen. Und nein, sie habe mit ihrer Dunkelgestaltung keinen Bezug zum Holocaust herstellen wollen, sagt Sideraite Alon.
assoziationen »Im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung hat Samuel Bak verschiedene Malstile ausprobiert, um seine Assoziationen zur Schoa auf die Leinwand zu bringen«, sagt die Kuratorin Ieva Sadzeviciene. In der aktuellen Ausstellung sind auch zwei abstrakte Ölbilder aus den 90er-Jahren zu sehen: schwarz-grau-weiße Flächen vor rotem Hintergrund.
Bak zeige, wie er sich während der Verfolgung und im Versteck gefühlt hat, erklärt die Kuratorin. Er wolle vermitteln, dass es sehr heiß gewesen ist, als er sich im Schrank versteckte, dass er das Gefühl hatte, alles würde explodieren. »Aber später hat er verstanden, dass man die Leute besser fesseln und ihnen über den Krieg erzählen kann, wenn man mit Symbolen arbeitet«, sagt Sadzeviciene. »Bak nennt seine Malweise ›allegorischen Realismus‹ – nicht Surrealismus, wie manche fälschlicherweise behaupten.«
Symbole Zu den wichtigsten Symbolen in der Malerei von Samuel Bak zählen die Birne, die Schachfiguren und die Amsel. Die Birne zum Beispiel sei für ihn eine Frucht des Wissens, sagt Sadzeviciene. »Die Birne erinnert ihn an das verlorene Paradies und an den Krieg, der sich als Hölle entpuppte.«
Bak malt Bilder mit Birnen, die wie der Liebesgott Amor in Positur stehen, Birnen aus Metall mit Schlüsselloch – aber die Schlüssel sind verloren, es ist unmöglich, ins Paradies zurückzukehren. Im Jahr 2010 hat Samuel Bak die Birne in einen Zyklus rund um Adam und Eva auftauchen lassen. Was wäre passiert, wenn beide Eltern überlebt hätten? Das sei wie Adam und Eva, das sei, als wollten seine Eltern die Welt nach dem Holocaust reparieren, sagt Ieva Sadzeviciene.
Unter Baks Ölbildern finden sich auch Birnen, die nicht vollständig sind, beschädigt oder angebissen, Vater und Mutter sitzen in den Birnen oder darunter. Es sei auf eine Art ein Spiel für ihn gewesen: »Was wäre passiert, wenn ...«, meint Sadzeviciene. »Denn es haben in Wirklichkeit nur er und seine Mutter als Einzige der ganzen Familie den Holocaust überlebt.« Dann wieder sind es Schachfiguren vor einem zerstörten Gemäuer. Sie stehen für das Leben der einfachen Menschen, die wieder und wieder vom Krieg der Mächtigen heimgesucht werden.
Sein eigenes Schicksal vergleicht Samuel Bak mit dem einer Amsel. An einem Ufer steht ein riesiger Metallvogel, in einiger Entfernung hockt eine kleine Amsel, die ihren Blick auf das Meer und den Horizont heftet, der sich vor ihr öffnet. Damit hat der kleine Vogel sein Glück und seine Freiheit gewonnen. Bak bezieht sich mit diesem Bild auf ein chinesisches Sprichwort: »Das Glück zu fangen, ist für einen Sehenden dasselbe wie für einen Blinden – den kleinen Vogel zu fangen, der hinter seinem Rücken fliegt.« Kuratorin Sadzeviciene sagt, Samuel Bak habe das Gefühl, den Vogel gefangen zu haben, »denn es bestand fast keine Chance, am Leben zu bleiben«.
audioguide Damit die Besucher die Ideen, Symbole und Metaphern des Malers verstehen können, hat das Museum eine Audioguide-App entwickelt, die man vor Ort herunterladen kann. Wer kein Mobiltelefon besitzt oder dabei hat, kann sich am Eingang ein Tablet für den Rundgang ausleihen.
Im Audioguide hört man immer wieder den Künstler selbst, der im Originalton kommentiert oder aus seinem Leben erzählt. Für alle, die es nicht ganz so genau wissen wollen, tauchen hier und da nur ganz verkürzte Aussagen und zentrale Botschaften zum Werk von Samuel Bak auf. Wie zum Beispiel: »Hoffnung. Hoffnung ist solch ein grundsätzliches, grundsätzliches, grundsätzliches Ding in unserem Leben, wir können nicht ohne Hoffnung leben.«
Zwischen den Ausstellungsflächen tauchen auch immer wieder kleine Monitore auf, aus denen der Maler über seine Kunst und seine Biografie spricht. Einmal im Monat bietet das Museum sogar einen Live-Chat mit Samuel Bak an, bei dem der Künstler von seinem Wohnort in Boston den Besuchern in Vilnius Rede und Antwort steht.
Tatsächlich hat sich das neue Museum längst in Litauen herumgesprochen. Nicht nur die Besucherzahlen wachsen, auch das Interesse an jüdischen Themen nimmt gerade bei der jungen Generation stetig zu.
www.jmuseum.lt