Zach sitzt in einem abgewetzten Polstersessel, wiegt sich nach vorne und hinten, sodass bei jeder Bewegung etwas mehr von dem schmutzig-gelben Schaumstoff aus einer aufgeplatzten Ecke quillt. Er schaut die Nachrichten im Fernsehen, wo Gesundheitsminister Tom Price den Gesetzentwurf verteidigt, den die Abgeordneten der Republikaner gerade mit hauchdünner Mehrheit durch das Repräsentantenhaus gejagt haben: »Wir wollen, dass jeder Amerikaner die bestmögliche medizinische Versorgung bekommt«, sagt der Minister. Zach kneift die Augen zusammen, murmelt ein paar Worte, unverständlich, aber eindeutig unwirsch.
Zach, seinen Nachnamen will er nicht nennen, ist 79. Er kam als junger Mann aus Rumänien in die USA und lebt heute in Atlanta. Er hatte einmal eine Frau, eine Arbeit und ein paar Ersparnisse. »Alles weg«, sagt er und winkt ab, nicht bitter, eher mürrisch und ein bisschen wütend, »weil ich dumm war, und weil ich Pech hatte.«
Zach hat Diabetes, Rheuma und ein schwaches Herz. Die meiste Zeit verbringt er in seinem Einzimmerapartment, er liest Zeitung, schaut CNN, Fox News und BBC, vor allem Politik interessiert ihn. Er geht alle zwei Tage zum Supermarkt am Ende der Straße und – wenn das Wetter gut ist – am Schabbat in die nahe gelegene Synagoge.
Einmal in der Woche kommt ein Mitarbeiter der Jewish Family and Career Services (JF&CS), einer Sozialorganisation für ältere Juden in Atlanta, und hilft Zach im Haushalt. Auch wenn er zum Arzt muss, fährt ihn ein JF&CS-Mitarbeiter. Krankenversichert ist Zach über Medicaid, die staatliche Versicherung für Arme, Behinderte sowie alleinerziehende Mütter und deren Kinder. Medicaid wurde 1965 als Teil der Great-Society-Sozialprogramme von Präsident Lyndon B. Johnson ins Leben gerufen – und 2010 unter dem Affordable Care Act, genannt Obamacare, erweitert.
Programme Mittlerweile sind 75 Millionen Amerikaner über das Programm versichert, das vom Bund und den Einzelstaaten getragen wird. Nicht nur Privatpersonen, auch Einrichtungen wie Alten- und Pflegeheime sowie ambulante Sozialdienste und Programme wie »Essen auf Rädern« erhalten Mittel aus dem Medicaid-Topf. Tatsächlich ist Medicaid heute die größte Krankenversicherung der USA.
Das könnte sich demnächst ändern. Im zweiten Anlauf haben die Republikaner vergangene Woche im Repräsentantenhaus für einen Gesetzentwurf gestimmt, den American Health Care Act (AHCA). Demnach sollen unter anderem die Finanzmittel für Medicaid in drei Jahren, ab 2020 also, eingefroren und zurückgefahren werden.
Mit dem Gesetz soll ein zentrales Wahlversprechen von Präsident Donald Trump eingelöst werden, nämlich Obamacare zu kippen und zu ersetzen. Ein erster Vorstoß war Ende März noch vor der Abstimmung am internen Zwist unter den Republikanern gescheitert.
Laut dem Gesetzentwurf würden die Einzelstaaten vom Bund eine jährliche Pauschale bekommen, die sich jeweils an der Pro-Kopf-Rate der Medicaid-Empfänger orientiert. Kritiker warnen, dass das Modell keinen Raum für eine flexible Anpassung der Ausgaben lasse – wenn zum Beispiel eine Wirtschaftskrise mit steigender Arbeitslosigkeit die Kosten für Medicaid nach oben treibe.
Sollte der American Health Care Act – von vielen bereits als »Trumpcare« betitelt – in dieser oder einer ähnlichen Form Gesetz werden, könnten bis 2026 die staatlichen Mittel für Medicaid um 25 Prozent – oder 880 Milliarden Dollar – schrumpfen, prognostizierte das unabhängige Budgetbüro des Kongresses (CBO).
Jüdische Amerikaner und jüdische Sozialeinrichtungen könnten die Einschnitte besonders schmerzhaft zu spüren bekommen. Nach einer Studie des Washingtoner Pew-Forschungsinstituts von 2013 sind sie älter als der Bevölkerungsdurchschnitt, haben weniger Kinder und leben länger. »Das heißt auch: Viele jüdische Amerikaner sind auf Programme wie Medicaid angewiesen«, sagt Jonathan Westin, Direktor der Gesundheitsinitiativen bei den Jewish Federations of North America, dem US-Dachverband für jüdische Sozialeinrichtungen. Die Partnerorganisationen der Jewish Federations of North America in den einzelnen Kommunen, darunter auch JF&CS in Atlanta, erhalten derzeit insgesamt sechs Milliarden Dollar pro Jahr aus dem Medicaid-Budget. Viele jüdische Einrichtungen, vor allem Pflege- und Altenheime, finanzieren sich bis zu 60 Prozent aus der staatlichen Krankenversicherung.
»Wir wissen nicht, wie unsere Partnerorganisationen langfristig mit 25 Prozent weniger Medicaid-Mitteln überleben sollen«, sagt Westin, »denn der Anteil an Alten nimmt in der jüdischen Bevölkerung in den USA stark zu.« Der Entwurf der Republikaner würde, zumindest in seiner gegenwärtigen Form, »zu einer tiefen Finanzierungskrise« für die jüdisch-amerikanischen Sozialprogramme führen, sagt der Gesundheitslobbyist.
Außerdem – und diese Klausel wurde im zweiten Gesetzentwurf noch verschärft – gibt der AHCA den Bundesstaaten größere Flexibilität nicht nur bei der Verteilung der Gelder für Medicaid, sondern auch bei den Verhandlungen mit privaten Krankenversicherungen.
So könnten die Bundesstaaten den Krankenkassen künftig erlauben, aus den Bestimmungen von Obamacare auszusteigen und für Patienten mit Vorerkrankungen – also teure Patienten – höhere Beiträge zu berechnen.
Je nach Bundesstaat würde das neue Gesetz auch jene älteren Amerikaner, die auf dem freien Markt krankenversichert sind, schwer belasten, schreibt die jüdische Hilfsorganisation B’nai B’rith International in einem Statement. »Senioren der unteren Einkommensklasse, die Vorerkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Herzprobleme haben, können sich keine höheren Versicherungsprämien leisten«, heißt es weiter. »Sie stehen dann vielleicht bald vor der Wahl: Zahle ich meine Miete, oder kaufe ich Medikamente?«
Entwurf Zach schaut noch immer zu, wie Gesundheitsminister Price tapfer den Gesetzentwurf seiner Partei verteidigt. Er hält den Vorschlag für schlecht, sagt Zach, aber er will sich nicht unnötig aufregen. Tatsächlich muss der Entwurf erst noch vom Senat bestätigt werden, und in Washington rechnet kaum jemand damit, dass das glatt und vor allem zeitnah geschieht.
Einige republikanische Senatoren haben bereits angekündigt, einen eigenen Entwurf zur Reform von Obamacare vorzulegen. In diesem Fall würde ein Vermittlungsausschuss einen Kompromiss erarbeiten, und der müsste dann erneut von beiden Kammern des Kongresses bestätigt werden. »Das kann dauern«, sagt Zach. »Und vielleicht bleibt ja am Ende fast alles beim Alten.«