Brüssel

Kräfte und Verhältnisse

Alle Augen sind jetzt auf Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gerichtet. Wird sie eine zweite Amtszeit bekommen? Foto: Michael Thaidigsmann

Rund 360 Millionen Menschen waren zur Wahl eines neuen Europäischen Parlaments aufgerufen, gut die Hälfte beteiligte sich. Erstmals durften auch die 16- und 17-Jährigen ihre Stimme abgeben. 720 Mandate waren zu vergeben, 96 Parlamentarier kommen aus Deutschland.

Was auf den ersten Blick wie eine europaweite Abstimmung über die Politik der Europäischen Union aussah, entpuppte sich in Wahrheit als 27 nationale Wahlen. Die Wahlkämpfe der Parteien drehten sich meist um Themen, die in Straßburg und Brüssel mangels Zuständigkeit der EU gar nicht oder nur am Rande behandelt werden. Und nur eine Handvoll Politiker machte über die Grenzen des eigenen Landes hinaus Wahlkampf.

Am Ende stand ein Ergebnis, das weniger dramatisch ausfiel, als es zunächst den Eindruck machte. Zwar erzielten in einigen Mitgliedsstaaten rechtsextreme Kräfte wie das Rassemblement National von Marine Le Pen in Frankreich, die FPÖ in Österreich oder die AfD in Deutschland im Vergleich zur Wahl 2019 spektakuläre Zugewinne. Die politischen Kräfteverhältnisse im Straßburger Parlament, das die meiste Zeit des Jahres in Brüssel tagt, blieben aber im Wesentlichen gleich.

Stimmung machen und Wahlkreuze einsammeln

Das Kalkül linkspopulistischer und linksradikaler Parteien in Westeuropa, mit einer massiven Kampagne gegen Israel und dessen Krieg gegen die Terrororganisation Hamas im Gazastreifen Stimmung zu machen und Wahlkreuze einzusammeln, ging hingegen nur selten auf. Zwar wird in Frankreich die Bewegung La France Insoumise (LFI) von Jean-Luc Mélenchon künftig mit neun Abgeordneten im Europaparlament vertreten sein, vier mehr als bislang, aber weniger als die Sozialisten von Raphael Glucksmann, die auf 13 Mandate kamen.

Unter den Gewählten der LFI ist auch Rima Hassan. Die 32-jährige Franko-Palästinenserin holzte im Wahlkampf lautstark gegen Israel, übte auch scharfe Kritik am jüdischen Dachverband CRIF und organisierte sogar kurzerhand eine Demo gegen den Fernsehsender LCI, weil dieser es gewagt hatte, den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanja­hu zu interviewen. Hassan stellte mit ihrem Wahlkampf sogar die Spitzenkandidatin der LFI, Manon Aubry, in den Schatten.

Anderswo mobilisierte das Thema Nahost hingegen weitaus weniger Wähler als gedacht. Oder es mobilisierte gar eine »schweigende Mehrheit« - gegen die Israel-Kritiker. In Belgien kamen beispielsweise israelfreundliche Parteien wie das liberale Mouvement Réformateur (MR) oder die flämischen Nationalisten von der N-VA auf Spitzen­ergebnisse, während linke und grüne Parteien, die Sanktionen gegen Israel gefordert hatten, Verluste hinnehmen mussten.

In Spanien hatte sich im Vorfeld der Europawahl die Regierung des Sozialisten Pedro Sánchez mit der diplomatischen Anerkennung eines Palästinenserstaates und der Unterstützung der Klage Südafrikas gegen Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen eines angeblichen Völkermords zu profilieren versucht. Sánchez ist ein Bündnis eingegangen mit der Linkskoalition Sumar, deren Chefin Yolanda Díaz vor drei Wochen in einer Videobotschaft sogar den Satz »Palästina wird frei sein vom Fluss bis zum Meer« verwendete und die Beziehungen zu Israel auf einen neuen Tiefpunkt brachte.

Vielleicht mobilisierte das Thema Nahost eine schweigende Mehrheit, die es ganz anders sah.

Die Regierungsparteien in Madrid konnten bei den Wählern allerdings keine Bonuspunkte einheimsen, im Gegenteil: Die konservative Oppositionspartei Partido Popular gewann stolze neun Sitze im Europaparlament hinzu und wurde stärkste Partei, während die Sozialisten einen verloren und Sumar ungefähr auf dem Niveau von 2019 verharrte. Auch die dezidiert israelfreundlich auftretende Rechtsaußenpartei Vox gewann drei Mandate hinzu. Yolanda Diaz trat nun als Sumar-Vorsitzende zurück.

In Italien triumphierte, wie schon zuletzt bei der nationalen Wahl, die rechtsradikale Partei Fratelli d’Italia (FdI) von Giorgia Meloni. Seit deren Amtsantritt als Ministerpräsidentin vor zwei Jahren hat Meloni sich zwar gemäßigt gegeben und einen »europafreundlichen« und im Gegensatz zu ihrem ungarischen Amtskollegen Viktor Orbán auch ukrainefreundlichen Kurs eingeschlagen. Doch die Sorge, dass auch das EU-Gründerland Italien weiter nach rechts abdriften und so die EU in ein schweres Fahrwasser bringen könnte, ist nicht ausgeräumt.

In Polen, einem weiteren wichtigen EU-Staat, kamen die regierenden Christdemokraten von Donald Tusk auf den ersten Platz. Die rechtsextreme Partei Konfederacja Korony Polskiej (KKP) erzielte zwölf Prozent der Stimmen. Ihr Chef, der Publizist, Drehbuchautor und Regisseur Grzegorz Braun, sitzt bislang im polnischen Parlament, dem Sejm. Jetzt wurde er auch ins Europaparlament gewählt.

Drastische Wortmeldungen und aggressive Aktionen

Der 57-Jährige hat einen Hang zu drastischen Wortmeldungen und aggressiven Aktionen. Im vergangenen Dezember griff er sich im Sejm kurz entschlossen einen Feuerlöscher und löschte damit die Kerzen eines Chanukkaleuchters, bevor er noch einer Journalistin Löschmittel ins Gesicht sprühte. Ein »satanischer Kult« sei die Feier, man solle sich dafür schämen, so Braun. Sollte er seinen Sitz im Europaparlament annehmen, kommt womöglich viel mehr Löscharbeit auf ihn zu, denn in Brüssel gehört das Kerzenzünden an Chanukka für EU-Spitzenpolitiker mittlerweile ebenso dazu wie das Gedenken an die Opfer des Holocaust am 27. Januar.

In den kommenden Wochen und vielleicht sogar Monaten steht in Brüssel jedoch erst einmal die Bildung einer neuen EU-Kommission an. Das neu gewählte Europaparlament hat dabei ein gewichtiges Wort mitzureden. Momentan ist die Deutsche Ursula von der Leyen, Spitzenkandidatin der mit 189 größten Fraktion, der EVP, weit und breit die einzige Bewerberin, die realistische Aussichten auf Erfolg hat. Es wäre ihre zweite Amtszeit an der Spitze der wichtigsten EU-Institution. Die Kommission ist das Pendant zu den Regierungen auf nationaler Ebene, sie managt den Haushalt der Europäischen Union, arbeitet Entwürfe für neue Gesetze aus und treibt die europäische Integration voran.

Allerdings könnte von der Leyens »Projekt zweite Amtszeit« auch noch scheitern. Sie muss nämlich zunächst einmal eine Mehrheit der Staats- und Regierungschefs dazu bewegen, sie erneut als Kandidatin aufzustellen. War es 2019 Emmanuel Macron, der von der Leyen förmlich aus dem Hut zauberte, obwohl sie im Wahlkampf gar keine Rolle gespielt hatte, steht der Franzose fünf Jahre später mächtig unter Druck.

Seine Ankündigung, bereits für Ende dieses Monats vorgezogene Wahlen zur Nationalversammlung anzusetzen, drei Jahre vor dem eigentlichen Termin, schockierte auch viele Beobachter in Brüssel. Es könnte darauf hindeuten, dass Macron möglicherweise auch bereit sein könnte, von der Leyen zu opfern, falls er damit beim Publikum zu Hause punkten und so eine Premierministerin Marine Le Pen verhindern kann. Viel wird darauf ankommen, ob die Nominierung von der Leyens noch vor der Wahl in Frankreich stattfindet.

Auch andere Regierungschefs haben sich noch nicht auf die Frau aus Niedersachsen festgelegt. Sollte sie benannt werden, wäre das nur der erste Schritt. Sie muss anschließend noch eine geheime Wahl im Parlament überstehen, bei der sie die Unterstützung von mindestens 361 Abgeordneten bräuchte. Erst dann wäre der Weg frei.

Politisches Neuland

Doch Ursula von der Leyen ist nicht allseits beliebt, sie gilt als abgehoben und verschlossen. Selbst bei Mitgliedern der eigenen Fraktion hat sie Gegner. Beim letzten Mal, 2019, übersprang die Kandidatin die erforderliche Hürde im Parlament nur knapp. Falls sie es dieses Mal nicht schaffen sollte, auch das ist jedem in Brüssel klar, beträte die EU politisches Neuland.

In den nächsten Tagen dürften auch die Würfel fallen, was die Besetzung weiterer Spitzenämter angeht. So werden Nachfolger für den EU-Außenbeauftragten Josep Borrell (seine erneute Ernennung gilt als unwahrscheinlich) und für Ratspräsident Charles Michel gesucht. Die bisherige Parlamentspräsidentin Roberta Metsola von den Christdemokraten dürfte wohl für weitere zweieinhalb Jahre im Amt bleiben.

Anschließend wäre dann entsprechend der informellen Absprachen zwischen den Fraktionen eine Sozialdemokratin an der Reihe. Ob der Ausgang der Europawahl 2024 tatsächlich einen politischen Einschnitt bedeutet oder eher ein »Weiter so«, muss sich erst noch zeigen. Sicher ist, dass die Europäische Union trotz Rechtsruck nicht vor dem Untergang steht. Aber sie steht womöglich vor politisch unruhigen Zeiten.

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