Schmuck ist sie, die Villa im Schanghaier Stadtteil. Ein Ort, der die Zeit für einen Moment langsamer laufen lässt und die Sehnsucht nach einem Zuhause stillt. Ganz in der Nähe hatte bereits im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts einer der einflussreichsten jüdischen Ausländer mindestens zwei Landhäuser im britischen Stil für sich gebaut: der legendäre Sir Victor Sassoon, Besitzer des nicht weniger berühmten Cathay-, später Peace-Hotel am Bund, dem von Kolonialgebäuden gesäumten Uferquai der chinesischen Metropole.
Villa Religion Nichts außer einer Mesusa am Eingang der zwischen griechischen Säulen eingepassten Glastür deutet darauf hin, dass in dieser Villa Religion verehrt und gleichzeitig in besonderem Maße gelebt wird, und noch weniger, dass sich hier das Shanghai Jewish Centre Ohel Yisrael befindet. Weder gibt es eine Kontrolle noch einen Wachmann, was sowohl für China im Allgemeinen wie für jüdische Einrichtungen im Speziellen sehr ungewöhnlich ist.
Stattdessen gelangt der Besucher vorbei an zwei Kinderwagen unvermittelt in ein lichtdurchflutetes Atrium, wo sich eine freundliche chinesische Dame in perfektem Englisch hinter einer Theke nach dem Anliegen erkundigt. Daneben übt sich ein Kleinkind mit hübsch gekrausten Locken am Computer: Es ist Shterna, die jüngste und quirlige Tochter von Rabbi Shalom Greenberg. Daneben befindet sich eine Glasvitrine, in der Bücher zu den Themen Pessach in Shanghai oder das sefardische Kochbuch Aromas of Aleppo zum Verkauf angeboten werden, aber auch Mesusot, Hawdala-Kerzen und sogar eine nach halachischen Vorschriften tickende Wanduhr.
lilien Gegenüber dem Empfangsschalter steht, auf einem antiken Holztisch neben einer Vase mit langstieligen Calla-Lilien und einigen farbigen Kippot, ein großer schwarzer Informationsständer, darüber eine blaue Weltkugel mit dem Banner »Welcome to Chabad of Shanghai«.
Das ausgelegte Werbematerial reicht von Kinderaktivitäten, wie eine Schabbat-Party, Boy’s Football, Family Fun Dinner, über ein Gratis-Software-Programm zum Thema biblisches Hebräisch bis hin zum Angebot der Shanghai Gan, einer Vorschule für Künste, in der Kinder unter anderem lernen, empfindsam für die Bedürfnisse anderer zu werden und mit ihnen zu teilen.
Bevor es die Treppe runtergeht, fällt der Blick auf das Bild eines sympathischen jungen Ehepaars auf einem Flugblatt mit dem Titel »From Darkness to Light«: Es sind die bis vor Kurzem in Schanghai lebende Messod und Michal Wizman, die beim schrecklichen Terrorattentat von Marrakesch im April ums Leben kamen.
Marmortreppe Im klimatisierten Gebetsraum darf der sich bereits weniger fremd fühlende Besucher auf den Rabbi warten. Unter einem Porträt von Menachem Schneerson geht es die Marmortreppe runter, vorbei an Kühlschränken mit allerlei koscheren Delikatessen. »Sie können bei uns auch Essen bestellen, per Telefon oder Mausklick im Computer, es wird Ihnen innerhalb kurzer Zeit per Kurier zugestellt«, sagt die chinesische Empfangsdame.
In der Tat führt der »Online kosher mini market« ein reichhaltiges Angebot von Baba Ganoush über Matbucha, einem Salat aus Tomaten und gerösteten Paprikaschoten, bis zu gefiltem Fisch. Shanghai ist auch für religiös lebende Juden zumindest im Essbereich kein Härtepflaster mehr.
hafen 1998 ist Rabbi Shalom Greenberg zusammen mit seiner Frau aus New York nach Schanghai gekommen. Freiwillig, wie er betont. Schanghais letzter Rabbiner hatte die Stadt vor dem Einmarsch der Kommunisten im Mai 1949 verlassen, wie das auch die große Mehrzahl der jüdischen Flüchtlinge aus Europa und die verbliebenen Mitglieder der russischen und sefardischen Gemeinde getan hatten. Anfang der 80er-Jahre lebte gerade noch ungefähr ein halbes Dutzend Juden in Schanghai, jener Stadt, die einst als sicherer und visumfreier Hafen gegolten hatte.
Nach dem Exodus der Juden aus China klebte lediglich die Patina der Vergangenheit noch für eine Weile an den stummen Zeugen jüdischer Einrichtungen, an Synagogen oder Friedhöfen, bis dann turbulente Zeiten die ursprünglichen Funktionen dieser Institutionen ganz zunichte machten. Schließlich tilgte Schanghais Modernisierungsfieber der vergangenen Jahre, mit ganz wenigen Ausnahmen, auch noch die letzten Spuren jüdischer Geschichte, etwa im ehemaligen Ghetto von Hongkou.
Dienstleistung Mit einem warmen Händedruck heißt der Rabbi den Gast willkommen, entschuldigt sich für seine Verspätung – er ist eben auch Seelsorger und rund um die Uhr gefragt –und holt ein frisch gebügeltes Tischtuch hervor. Sauber und aufgeräumt müsse der Gebetsraum sein, wenn man denn fotografieren wolle, lacht der gutmütige, ursprünglich aus Israel stammende Rabbi verschmitzt.
Anfänglich seien die Juden, damals ungefähr 150 Personen, in einem Hotelzimmer zusammengekommen, um den Schabbat und andere religiöse Festtage zu feiern. Heute seien es mehr als 2.000 Leute, die kommen und gehen, in ihrer Mehrzahl aus den USA und Israel stammende Geschäftsleute mit ihren Familien. Chabad versteht sich auch als Dienstleistungsinstitution an der jüdischen Gesellschaft, die ihrem Namen alle Ehre macht.
kurse Mit dem chinesischen Staat gebe es keine Konflikte, »solange wir nichts Dummes machen«, betont Rabbi Greenberg. Man habe sich mit der Obrigkeit arrangiert und spreche mit einem vollen Programm für Kinder und Erwachsene »nur« Ausländer an, keine Chinesen. Missionieren ist ausländischen religiösen Institutionen streng untersagt, und das Judentum gehört ohnehin nicht zu den fünf vom Staat anerkannten Religionen. In der Tat existiert ein eindrückliches Angebot an Vorschulkursen, inklusive Spezialkursen zu hebräischer Kultur und Sprache.
Jeden Freitag finden Schabbatfeiern statt, mit mehr als 100 Teilnehmern, an Feiertagen finden sich bis zu 500 Personen ein. »Wir sind eine erweiterte Familie«, erklärt der Rabbi, während seine wachen Augen strahlen. Antisemitismus sei in China kein Thema, »wir Juden tragen bei den meisten Chinesen nun einmal die Stigmata ›klug‹ und ›reich‹«. »Doch«, so der Rabbi humorvoll, »sind sie dann jeweils ziemlich erstaunt, wenn ich ihnen keine Antwort auf ihre Frage geben kann, wie man ein jüdischer Millionär wird.«
brüder Chabad ist in Schanghai gleich mit zwei Rabbinern vertreten: Neben Shalom Greenberg ist sein Bruder Avraham für die Gemeinde in Pudong, dem Wirtschafts- und Hightech-Bezirk Schanghais zuständig. Ein dritter Rabbiner, Rabbi Shlomo Aouizerat aus Frankreich, steht der sefardischen Gemeinde vor, tut sich aber in schulischen Fragen häufig mit Chabad zusammen.
Eine liberale Gemeinde wie beispielsweise in Peking gibt es hier nicht. Es scheint auch nicht nötig zu sein, denn Rabbi Shalom Greenberg ist ein Mann, der offen und tolerant ist für Andersdenkende, ein »Gerechter« eben, der ein bisschen von dem Gefühl vermittelt, wozu einer »guter Mensch« fähig ist.