Ein schwarz gekleideter Mann mit langen dunklen Haaren betritt die Bühne. Ihm folgen sechs Männer in Kostümen, schlicht, schwarz und braun gestaltet. Als Letztes kommen sechs ältere Herren in Smoking, eine Kippa auf dem Kopf. Alle sind Sänger, sie stehen in einer Reihe. Hinter ihnen sind auf einer Videoleinwand drei sehr ernst dreinschauende Geistliche zu sehen, ein Bild aus dem 19. Jahrhundert. Zunächst singt der jüdische Chor à capella einen liturgischen Gesang, es folgt der Solist mit einem offensichtlich orthodoxen Kirchenlied. Ihm antworten die muslimischen Sänger mit etwas Geistlichem. Zum Abschluss singen alle 13 Männer auf der Bühne ein letztes Wort gemeinsam: »Amin«.
unpolitisch Was da Mitte Januar in Istanbul bei der üppigen Eröffnungsfeier der Veranstaltungen zum Titel »Kulturhauptstadt Europas« in einem Kongresszentrum am Bosporus geboten wurde, war der Trialog der monotheistischen Weltreligionen mit der Brechstange. Zugleich zeigte der geistliche Showgesang, wie das türkische Establishment die jüdische Gemeinde in der Türkei am liebsten wünscht: Brav integriert und schön unpolitisch im Chor der Gesellschaft. »Ne mutlu Türküm diyene – glücklich/stolz sei, wer sich Türke nennen kann.« Dieser überall im Land unter Statuen zu lesende Ausspruch des Gründervaters der Republik, Kemal Atatürk, ist das Programm, dem die jüdische Gemeinschaft wie alle anderen religiösen und ethnischen Minderheiten hier zu genügen hat: Wer glücklich oder stolz sein Türkentum vor sich her trägt und still bleibt, ist wohlgelitten.
Dieses Stillhalten aber fällt den Juden in Istanbul zunehmend schwer. Sie belastet das in den vergangenen Jahren immer schlechter werdende Verhältnis zwischen den Militärpartnern Türkei und Israel. Da war der Wutanfall des türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan vor Israels Präsidenten Schimon Peres Anfang 2009. Und da war jüngst der Eklat um den israelischen Vizeaußenminister Danny Ayalon. Seitdem ist die türkische Gemeinschaft Istanbuls weggetaucht: Man fürchtet antisemitische Anschläge. Eine der Synagogen der Hauptstadt blieb vorsorglich an einem Schabbat Mitte Januar geschlossen. Und zwei unabhängige Quellen bestätigen: Die Gemeinde hat ihren Mitgliedern, inoffiziell, einen Maulkorb verpasst – niemand soll derzeit mit Journalisten reden. Es soll kein Öl ins Feuer gegossen werden.
Dieses Wegtauchen ist typisch für die größte jüdische Gemeinde der Türkei in Istanbul. Man bleibt am liebsten unter sich und äußert sich zu politischen Belangen in der Öffentlichkeit bestenfalls in sibyllinischen Worten. Typisch war, dass die Gemeinde kürzlich eine Umfrage zum Thema Antisemitismus finanzierte – jedoch diese Frage aus politischen Gründen nicht direkt und allein stellen wollte, sondern nur allgemeine Fragen zu Vorurteilen gegenüber Minderheiten zu stellen wagte. Die jüdische Gemeinde in der Türkei ist am liebsten ganz still.
Das erscheint ihr als eine kluge Lehre aus der Geschichte. Schon 1934 gab es eine antisemitische Welle in Ost-Thrakien. Wenige Jahre später erhob die türkische Regierung eine Kapitalsteuer, die vor allem für jüdische Geschäftsleute ruinös war. Auch eine nationalistische Kampagne geriet 1955 außer Kontrolle und führte zu antisemitischen Ausfällen. Geradezu traumatisch aber waren in Istanbul die direkten Anschläge auf die Gemeinde: 1986 durch Palästinenser mit 24 Toten, 1992 durch einen Granatenangriff mit einem Verletzten, vor allem aber der Doppelanschlag auf die Synagogen Neve Shalom und Beit Israel mit 23 Toten und mehr als 300 Verletzten im Jahr 2003. Und das zusätzlich Verstörende an diesem letzten Anschlag war: Die Täter waren Türken.
gründungsmythen Dabei gehört zu den Gründungsmythen der Republik, dass es in der Türkei keinen Antisemitismus gebe – die Aufnahme von vielen tausend vertriebenen Juden aus Spanien und Portugal Ende des 15. Jahrhunderts wird von den offiziellen Stellen in Istanbul und Ankara immer wieder als ein Beispiel der Toleranz gefeiert. Das aber ist nur die halbe Geschichte. Die jüdische Gemeinde sah sich kürzlich gezwungen, in einer PR-Fotoausstellung zu betonen, wie normal man doch sei – gezeigt wurden vor allem die kulturellen Aktivitäten der Gemeinde. Generell heben die Gemeindeoberen stets ihre guten Beziehungen zu Erdogan hervor. Aber auch in Istanbul müssen die Gemeindeeinrichtungen durch Polizei und internes Sicherheitspersonal geschützt werden.
Der bedeutendste Antisemitismus-Forscher in der Türkei, Rifat Bali, macht auf eine andere Besonderheit aufmerksam: Gerade führende Gemeindemitglieder verkniffen sich jede öffentliche Solidaritätskundgebung mit Israel. »Sie haben keine Freiheit, dies zu tun«, meint der Gelehrte, »sie können nicht offen reden.« Man führe da ein Doppelleben, sagt er – denn offene Solidarität mit Israel sei ein ähnliches Tabu wie die Benennung der Massenmorde an den Armeniern Anfang des 20. Jahrhunderts als »Genozid« – wer dies tut, macht sich unmöglich, ja angreifbar.
normalität Neben all diesen Problemen gibt es natürlich aber auch noch das ganz normale Gemeindeleben – und das funktioniert durchaus. Zwar ist die mittlere und eher wohlhabende Generation ab etwa 40 Jahren oft nicht mehr sehr religiös, wie eine Kulturmanagerin erzählt, die anonym bleiben will, da sie in der Gemeinde bekannt ist wie ein bunter Hund. Es gebe aber heute auch eine Bewegung zurück zur Religion der Großeltern. Zum einen weil seit ein paar Jahren gut ausgebildete Rabbiner aus Israel und den USA das Gemeindeleben förderten. Zum anderen, weil Organisationen wie Chabad die Frömmigkeit zu stärken suchten – bis zu Kabbala-Unterrichtsstunden, die populär, ja modisch seien.
Jak Esim ist da skeptischer. Der nicht nur in jüdischen Kreisen bekannte Sänger sefardischer Lieder meint nüchtern: Das Gemeindeleben sei schon mal aktiver gewesen. Er selbst, erzählt er, gehe aus Zeitman- gel kaum mehr in die Synagoge, was nicht untypisch ist. Vor allem wegen der Wirtschaftslage hätten viele Gemeindemitglieder in den vergangenen Jahren einen harten Schnitt gemacht und seien nach Israel ausgewandert. Heute, so schätzt Esim, liege die Zahl der tatsächlichen Gemeindemitglieder in Istanbul bei nur noch etwa 15.000. Offiziell aber heißt es: Man liege immer noch bei knapp 20.000. Die jüdische Gemeinde will stark sein – und ganz normal.