Gesellschaft

Kompliziertes Verhältnis

Gemeinsamkeit, die brüchig wird: Im Mai 2015 feierten Rabbi Yerachmiel Shapiro (l.) und Meach Johnson gemeinsam, dass gegen sechs Polizisten wegen rassistischer Gewalt Anklage erhoben wurde. Foto: AP Photo

Der Schuldige war schnell gefunden nach den jüngsten tödlichen Schüssen von US-Polizisten auf schwarze Bürger: Israel. So jedenfalls formulierten es propalästinensische Gruppen in den Vereinigten Staaten, denen die israelische Unterstützung im Anti-Terrorkampf ein Dorn im Auge ist. Denn IDF und Co., so argwöhnten sie, lehrten in Wahrheit den Rassismus, den sie gegenüber den Palästinensern ausübten. So weit, so krude. Aber wie steht es wirklich um das Verhältnis von Juden und Afro- amerikanern?

Nach den Schüssen von Dallas Anfang Juli verurteilten alle nennenswerten jüdischen Organisationen den Anschlag. Der Präsident des Jewish Council for Public Affairs (JCPA), David Bernstein, beließ es allerdings nicht dabei. »Viel zu viele Afroamerikaner, besonders junge Männer, sind bereits der Polizeigewalt zum Opfer gefallen. Ihr Tod hat bleibende Spuren in ihren Familien und der Gemeinschaft hinterlassen«, sagte er. Die Flut grauenhafter Polizeiwaffengewalt mache deutlich, dass sich viele Dienststellen grundlegend wandeln müssen.

»Es geht darum, dass sie sich nicht weiter ausschließlich als Vollstrecker des Gesetzes sehen, sondern als Mitglieder einer Gemeinschaft. Unser Land hat noch einen weiten Weg vor sich.« Bernstein, erst Ende vergangenen Jahres an die Spitze des JCPA gewählt, hat es zu einer seiner Hauptaufgaben gemacht, die Beziehungen zu Afroamerikanern zu intensivieren.

RADIKAL-ISLAM Obwohl Juden in der Geschichte der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung eine wichtige Rolle spielten, ist das aktuelle Verhältnis zwischen Schwarzen und Juden in den USA recht konfliktbeladen.

Das liegt einerseits an dem seit den 60er-Jahren stark gewachsenen Einfluss radikaler islamischer Stimmen auf die Bürgerrechtsbewegung, die mit der Ablehnung Israels und der Unterstützung von BDS und anderen Israelgegnern einhergeht, andererseits aber auch an einem häufig unverhohlen antisemitischen Tenor.

So ist eine populäre Kernthese die, dass das Geld der Juden zur Unterdrückung der Schwarzen geführt habe und Juden gar
nicht wüssten, was Rassismus ist, denn sie genössen das Privileg der weißen Hautfarbe. Eine Sichtweise, die zumindest im Kern die historische Wahrheit der Verstrickung einiger jüdischer Geschäftsleute in den Sklavenhandel in sich trägt.

Dabei wurden etliche Organisationen, so etwa die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), von Juden mitgegründet. Einer von ihnen war Henry Moskowitz. Er wurde 1879 in Rumänien geboren und kam 1883 mit seiner Familie in die USA. 1899 machte er seinen Schulabschluss am City College in New York, promovierte anschließend an der Universität Erlangen in Philosophie.

Geprägt wurde Moskowitz in seiner Jugend im University Settlement’s Boys’ Club, einer Organisation, die sich um die Kinder armer Einwanderer in New Yorks Lower East Side kümmerte. Hier begegnete er auch dem Sozialisten William English Walling. Gemeinsam unternahmen die beiden 1905 eine Studienreise nach Osteuropa, um mehr über die wirtschaftlichen und sozialen Umstände dort zu erfahren.

POGROME Im Sommer 1908 kam es in der Stadt Springfield, Illinois – ehemals der Wohnort Abraham Lincolns – zu rassistischen Pogromen, nachdem Gerüchte die Runde gemacht hatten, ein schwarzer Mann habe eine weiße Frau angegriffen. Zwei Tage wütete der Mob, brannte und riss die Häuser schwarzer Bürger nieder. Parolen wie »Lincoln hat euch befreit. Wir zeigen euch jetzt, wo ihr hingehört« wurden skandiert. Am Ende blieben sechs erschossene und zwei gelynchte Afroamerikaner zurück. Rund 2000 verließen infolge der Pogrome die Stadt.

Walling beschrieb die rassistischen Krawalle für die Zeitung »Independent« unter der Überschrift »Rassenkrieg im Norden«. Es war die Geburtsstunde der NAACP. 1909 gründete Moskowitz die Organisation – gemeinsam mit jüdischen Bürgerrechtlern wie der Frauenrechtlerin Lillian Wald, Rabbi Emil G. Hirsch und Rabbi Stephen S. Wise. Sie wurde der größte Verband für die Bürgerrechte schwarzer US-Amerikaner.

Und heute? Unter den jüdischen Organisationen, die federführend im Kampf gegen den Rassismus in den USA sind, ist die einflussreiche Anti-Defamation League (ADL). Sie bietet ein spezielles Trainings-programm unter anderem für Polizisten an. Darin werden die Beamten in Sachen Hassverbrechen und gegen die Thesen rechtsradikaler Vertreter einer vorgeblich überlegenen weißen Rasse sensibilisiert.

Das Programm »Law Enforcement Training Opportunities« schließt auch Besuche im US Holocaust Memorial Museum in Washington ein. Inzwischen haben mehr als 100.000 Gesetzesvertreter das Programm durchlaufen.
Im Vorfeld der Krönungs-Parteitage von Demokraten und Republikanern in Cleveland und Philadelphia rief die ADL dazu auf, sich im Inland stärker für eine Verbesserung des Wahlrechts und -systems, eine Reform des Strafrechts und für Flüchtlingsrechte einzusetzen sowie für die Prävention von Schusswaffengewalt und eine Ausweitung des gesetzlichen Schutzes für Homosexuelle. Damit steht die ADL ganz in der Tradition der Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner.

CIVIL RIGHTS MOVEMENT
Ein Blick zurück. Auch auf dem Höhepunkt des Civil Rights Movement waren Juden unter den weißen Mitstreitern besonders stark vertreten. Die Hälfte der jungen Leute, die am »Mississippi Freedom Summer« 1964 teilnahmen, war jüdisch.

Ebenfalls 1964 wurden jüdische Anführer der Reformbewegung zusammen mit Martin Luther King in St. Augustine, Florida, verhaftet, nachdem sie die Rassentrennung in öffentlichen Einrichtungen angeprangert hatten. Und im berühmten dritten Marsch von Selma nach Montgomery am 21. März 1965 marschierte Rabbi Abraham Joshua Heschel, der bei Leo Baeck in Berlin studiert hatte, Arm in Arm mit Martin Luther King. Nach dessen Ermordung hielt Heschel den Nekrolog auf dessen Trauerfeier am 8. April 1968.

Am Zustandekommen der beiden wichtigsten gesetzlichen Schritte gegen den Rassismus, dem Civil Rights Act 1964 und dem Voting Rights Act 1965, waren jüdische Menschenrechtler unmittelbar beteiligt. Doch mit dem zunehmenden Einfluss radikaler Kräfte wie Malcolm X und der Black-Power-Bewegung beziehungsweise deren Islamisierung ging dieser Einfluss stark zurück. Das »Student Nonviolent Coordinating Committee« schloss 1966 Weiße grundsätzlich aus, und mit dem Aufkommen der »Nation of Islam« unter Elijah Mohammad und dem heutigen Anführer Louis Farrakhan schien das Tischtuch endgültig zerschnitten. Hinzu kamen die Debatten um die »Affirmative Action«, die Quotenregelung, auf der die meisten schwarzen Organisationen bestanden, während jüdische Gruppen eher dem Leistungsprinzip verbunden blieben.

»Ich habe ein Problem mit Juden. Denn ich sage euch, dass sie nicht Gottes auserwähltes Volk sind. Ihr, die Schwarzen Amerikas und der westlichen Hemisphäre seid es.« Das ist noch eine der milderen Aussagen Farrakhans, dessen antisemitische Parolen Programm sind. Erst kürzlich lobte er Donald Trump dafür, dass »er der einzige war, der sich vor die Juden gestellt und gesagt hat, ›ich will euer Geld nicht‹«.

9/11 Doch im nächsten Satz relativierte sich Farrakhan, der auch der Meinung ist, »die Juden« steckten hinter 9/11, schon wieder. »Wann immer jemand denen, die die Kontrolle über Amerikas Politik haben, sagt, ›ich möchte euer Geld nicht‹, heißt das, ihr könnt mich nicht kontrollieren. Aber sie können die Kontrolle über die US-Präsidenten ja nicht aufgeben ...« Das sind Aussagen aus dem Frühjahr 2016.

Neben Farrakhan sind es vor allem die Vertreter der »New Black Panther Party« (NBPP), die laut ADL größte organisierte antisemitische und rassistische schwarze Militanten-Vereinigung in den USA, die sich einem Dialog in Gesellschaftsfragen strikt verweigert.

Nicht nur das. Die NBPP ruft auch offen zu Waffengewalt gegen die »Unterdrücker« auf, womit der Staat insgesamt gemeint ist, und sie fordert die Schaffung einer bewaffneten »African United Front«.

Dass jüdische Menschenrechtler und Philanthropen zu einem Gutteil ihren schwarzen Landsleuten im Kampf für deren Rechte zur Seite gestanden haben, scheint heute bei der afroamerikanischen Bevölkerung fast vergessen. Ursache dafür sind die Gräben, die soziale Ungerechtigkeit und Polizeiwillkür in den USA gerissen haben.

Natürlich gibt es im lokalen Bereich viele Menschen, die unverdrossen wichtige tägliche Basisarbeit gegen Rassismus und Ungerechtigkeit leisten. Ein Beispiel ist die Foundation for Ethnic Understanding (FFEU) in Crown Heights, einem Stadtteil von Brooklyn. Die 1989 gegründete Grassroots-Organisation ist mittlerweile eine internationale Top-Adresse für afroamerikanisch-jüdische und islamisch-jüdische Beziehungen. Auch in Europa ist die FFEU mittlerweile aktiv.

Eine der wenigen afroamerikanischen Stimmen, die sich lautstark dagegen zur Wehr setzt, dass Bürgerrechtsbewegung und Menschenrechtsgruppen von antiisraelischer Agitation vereinnahmt werden, ist Chloé Valdary. Die Journalistin wirft den Israel-Boykott-Befürwortern vor, die Bürgerrechtsbewegung zu verraten.

SKLAVIN Am infamsten wurde sie ironischerweise von dem umstrittenen Blogger Richard Silverstein beschimpft, der sich selbst als »progressiven Zionisten« bezeichnet. Silverstein diffamierte Valdary als »Haussklavin« der »Israel-Lobby«. »Sie haben es geschafft: Sie haben eine Negro-Zionistin gefunden: Onkel Tom tanzt vor Freude«. Ein palästinafreundlicher Jude attackiert eine Afroamerikanerin rassistisch, weil sie sich für Israel einsetzt. Deutlicher und absurder ist kaum klarzumachen, dass der generelle gesellschaftliche Schulterschluss zwischen Juden und Afroamerikanern derzeit wieder weit entfernt scheint.

Wie tief verwurzelt antisemitische Klischees in der Bürgerrechtsbewegung sind, zeigt auch das jüngste Beispiel. Als ob sie keine anderen Sorgen hätten, posten »Black Lives Matter« auf Facebook derzeit über einen Zusammenhang zwischen Gewalt gegen Schwarze und »dem Völkermord, den die zionistischen Bürgerwehren und die IDF am palästinensischen Volk begehen«.
Henry Moskowitz wird heute auf der NAACP-Homepage übrigens nur noch beiläufig erwähnt, unter den wichtigsten Namen taucht er nicht mehr auf.

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