Mit Tränen in den Augen sitzt die junge Frau auf dem Ledersofa. Ihre Stimme zittert, als sie in der Talkshow »Lass’ sie reden« vom Montagnachmittag erzählt. In ihrer Moskauer Wohnung wartete sie auf den Anruf ihrer Freundin, der Schriftstellerin und Dramaturgin Anna Jablonskaja. Die 29-Jährige sollte um 16.05 Uhr mit dem Flug UN208 aus Odessa am Flughafen Domodedowo ankommen. In Moskau wollte sie von der Zeitschrift Kino-Kunst einen Preis für ihr neues Drehbuch in Empfang nehmen.
»Nachdem wir in den Nachrichten von dem Bombenanschlag in Domodedowo gehört hatten, versuchten wir, Anna auf dem Mobiltelefon anzurufen. Doch keine Antwort!«, bringt die junge Frau stockend hervor. Später dann habe sie erfahren, dass ihre Freundin, Mutter einer dreijährigen Tochter, zu den 35 Toten zählt, die die Behörden bis zum Montagabend gezählt hatten.
Außer Jablonskaja, die laut Internet-Quellen jüdischer Herkunft war, gibt es mindestens ein weiteres jüdisches Opfer: Der 38-jährige Roman Licht ist einer von insgesamt 116 Verletzten auf der Liste des russischen Gesundheits- und Sozialministeriums. Die Föderation der Jüdischen Gemeinden Russlands (FEOR) erklärte sich bereit, die Kosten für die Behandlung von Licht zu übernehmen.
Alle großen jüdischen Organisationen in Russland und der GUS verurteilten noch am Montagabend die Gewalttat und sprachen den Hinterbliebenen der Anschlagsopfer ihr Beileid aus. »Die unmenschliche, gegen friedliche Bürger gerichtete Tat schockiert uns durch ihre Brutalität und ihren Zynismus. Der Alltag der Menschen wurde zerstört. Wir hoffen, dass die Organisatoren dieser barbarischen Aktion gefasst und bestraft werden«, erklärten der Kongress der jüdischen religiösen Organisationen und Vereinigungen in Russland (KEROOR) und die Moskauer jüdische religiöse Gemeinde (MERO).
KAUKASUS Die staatlichen Ermittler gehen davon aus, dass der Anschlag von einem Selbstmordattentäter aus dem Kaukasus verübt wurde. Es könnte sich um einen Racheakt handeln, denn im Nordkaukasus gehen russische Truppen seit Monaten mit kompromissloser Gewalt gegen bewaffnete Banden vor. Der Russische Jüdische Kongress (REK) befürchtet deshalb, dass in der Folge des Anschlags wiederum rechte, fremdenfeindliche Gruppierungen in Russland Aufwind verspüren und gewaltsam gegen Ausländer aus dem Kaukasus vorgehen könnten. »Der Russische Jüdische Kongress ruft dazu auf, nicht auf Provokationen zu reagieren und alle Versuche zu stoppen, Nationalitätenkonflikte zu schüren. Wir alle müssen daran denken, dass Terrorismus keine ethnische oder konfessionelle Zugehörigkeit hat.« Die Befürchtung ist nicht unbegründet: Ende 2010 war es im Zentrum Moskaus gleich zweimal zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen mehreren Hundert organisierten rechtsradikalen Fußballfans und Kaukasiern gekommen.
Russlands Präsident Dmitri Medwedew hat unterdessen die nachlässige Arbeit der Sicherheitskräfte auf dem Flughafen Domodedowo kritisiert. Offenbar, so der Präsident, würden die vorhandenen gesetzlichen Regelungen von Polizei und Geheimdienst nicht ausreichend umgesetzt. Auch Zeitungen, Radio- und Fernsehnachrichten sowie Blogs berichten von schlechten Sicherheitskontrollen an russischen Flughäfen.
METALLDETEKTOREN Das ist umso verwunderlicher, da vor nur zehn Monaten, am 29. März 2010, zwei Selbstmordattentäterinnen aus dem Kaukasus Bomben in der Moskauer Metro zündeten und 40 Menschen töteten. Danach wurden die Sicherheitsmaßnahmen auf Bahnhöfen und Flughäfen vorübergehend erhöht. Doch vor einigen Wochen, um die Weihnachtszeit, waren die Metalldetektoren an den Flughafeneingängen bereits wieder außer Betrieb.