Andorra

Kleiner, sicherer Hafen?

Die Toleranz hat Geschichte im Zwergstaat zwischen Frankreich und Spanien. Aber die jüdische Gemeinschaft darf keine erkennbare Synagoge haben

von Mark Feldon  02.02.2025 11:28 Uhr

Einer der kleinsten Staaten der Welt – mit einer besonderen Beziehung zu seinen jüdischen Bürgern: Andorra Foto: Getty Images/iStockphoto

Die Toleranz hat Geschichte im Zwergstaat zwischen Frankreich und Spanien. Aber die jüdische Gemeinschaft darf keine erkennbare Synagoge haben

von Mark Feldon  02.02.2025 11:28 Uhr

Mit seinen 80.000 Einwohnern ist das Fürstentum Andorra nicht nur einer der kleinsten Staaten, es ist auch das weltweit einzige Land, das von zwei ausländischen Amtsträgern regiert wird: dem Bischof des spanischen Bistums Urgell und dem französischen Präsidenten. Gemäß der Verfassung ist die römisch-katholische Kirche, der etwa 90 Prozent der Bevölkerung angehören, die offizielle Staatsreligion. Das Land ist vor allem als beliebter Urlaubsort für Berg- und Skitourismus und als Steueroase bekannt; über seine besondere Beziehung zu Juden wird hingegen selten berichtet.

Während staatliche Behörden und Zivilgesellschaft in vielen Teilen Westeuro­pas eklatant darin versagen, jüdische Bürger vor Bedrohungen, Übergriffen und Anschlägen zu schützen, erscheint der Zwergstaat Andorra als Ort der Ruhe und Sicherheit. Trotz einer besonderen rechtlichen Situation, welche die religiöse Praxis von religiösen Minderheiten einschränkt, berichten Mitglieder der jüdischen Gemeinde von einem Leben ohne Furcht. Anders als in Deutschland, wo selbst jüdische Kindergärten und Restaurants rund um die Uhr bewacht werden müssen und die Polizei davon abrät, Kippa oder Davidstern in der Öffentlichkeit zu tragen, können Juden in Andorra ihre Religion und ihre Identität ohne Gefahr, ohne Angst ausleben.

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Aufgrund nationaler Gesetze dürfen sie zwar keine Synagoge betreiben, doch können sie für ihre Gemeindeaktivitäten auf ein eigenes Kulturzentrum zurückgreifen, das nicht als offizielle religiöse Räumlichkeit geführt wird. »Am Eingang gibt es keinerlei Kennzeichnungen – nicht einmal eine Mesusa –, nur ein kleines Schild über der Klingel«, erklärt ein Gemeindemitglied gegenüber der Jewish Telegraphic Agency (JTA). Doch im Inneren erwarte die Besucher »ein Raum für bis zu 150 Personen, ausgestattet mit Gebetbüchern, einer Gedenkwand, einer silbernen Menora und einer Lade, die drei gespendete Torarollen enthält, darunter eine aus Gibraltar«.

»Wir können unsere Religion praktizieren, ohne Angst haben zu müssen.«

Shimon Bar Scheshet

Die Zahl der Juden werde von Einheimischen auf 73 beziffert, während der aktuelle Leiter des Kulturzentrums von 250 ausgeht (und das US-Außenministerium von 100). Obwohl Juden also nur eine winzige Minderheit ausmachen und der Staat die römisch-katholische Kirche privilegiert, berichten zahlreiche Gemeindemitglieder von einem respektvollen Miteinander. Ein Sprecher der Gemeinschaft betonte: »Es gibt hier keinen Antisemitismus. Wir können unsere Religion praktizieren, ohne Angst haben zu müssen«, wird Shimon Bar Scheshet zitiert, der 1979 eingewandert ist. Das Land kenne weder Verbrechen noch Antisemitismus, »man kann ohne jede Sorge gegen Mitternacht oder zwei Uhr in der Nacht draußen spazieren gehen«. Tatsächlich ist Andorra laut der Numbeo-Datenbank das sicherste Land der Welt.

Toleranz hat hier Geschichte. Während des Zweiten Weltkriegs spielte Andorra eine entscheidende Rolle als Transitroute für jüdische Flüchtlinge, die vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten flohen. Die Pyrenäen dienten als natürliche Grenze und gleichzeitig als riskanter Fluchtweg nach Spanien. Laut Berichten der World War II
Escape Lines Memorial Society bot Andorra vielen Flüchtlingen die Möglichkeit, die Berge zu überqueren und der Gefahr zu entkommen. Manche Bewohner halfen den Flüchtenden mit Nahrung, Kleidung und sicheren Übergangsquartieren. Diese Tradition der Hilfeleistung hat das Selbstverständnis Andorras nachhaltig geprägt.

Der erste Rabbiner ist angekommen

Das kleine Land unterscheidet sich auch in seinem Verhältnis zu Israel wohltuend von seinen großen Nachbarn im Süden und im Norden. Der französische Präsidentschaftskandidat der Linksfront, Jean-Luc Mélenchon, hat die staatliche Anerkennung »Palästinas« als Wahlkampfversprechen ausgegeben und vertieft das Bündnis mit radikalen antizionistischen Bevölkerungsteilen. Die spanische Regierung hat die Staatlichkeit »Palästinas« bereits anerkannt und steht nun unter dem Druck, die diplomatischen Beziehungen zu Israel ganz zu kappen.

Andorra hingegen gehört zu den (weniger werdenden) europäischen Staaten, die »Palästina« nicht als Staat anerkennen. Israelis scheinen die freundlichen Beziehungen mit verstärktem Tourismus in den Zwergstaat zu quittieren. Auch das ist angesichts von Haftanträgen und sich häufender Angriffe auf israelische Reisende in Westeuropa eine positive Entwicklung.

Ein weiterer Meilenstein in der Entwicklung der jüdischen Gemeinde war die Ankunft eines Rabbiners im vergangenen Jahr. Laut der Jewish Virtual Library sieht die Gemeinschaft dies als wichtigen Schritt zur Stärkung ihrer Identität. Rabbiner Kuty Kalmenson organisiert nicht nur Gottesdienste und kulturelle Veranstaltungen, sondern setzt sich auch für die jüdische Bildung ein. »Wir haben die Hoffnung, dass wir alle zusammenbringen können – die alte Gemeinde und diejenigen, die noch keinen Kontakt zu jüdischem Leben hatten«, sagte er in einem Interview anlässlich seiner neuen Stelle. Diese Bemühungen tragen dazu bei, den Zusammenhalt der Gemeinschaft zu stärken und ihre Zukunft in Andorra zu sichern.

Jüdische Feste wie Chanukka werden in Andorra nicht nur von Juden besucht.

Neben den religiösen Aktivitäten engagiert sich die jüdische Gemeinde auch aktiv im interreligiösen Dialog. Jüdische Feste wie Chanukka werden hier von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit besucht, was das Verständnis füreinander fördert. Der interreligiöse Austausch wird von der Regierung unterstützt, die regelmäßig Veranstaltungen fördert, um den Zusammenhalt der verschiedenen Gemeinschaften zu stärken. Diese Bemühungen zeigen, wie ein kleiner Staat große Wirkung erzielen kann, wenn er auf Dialog und Respekt setzt.

Mit seiner Geschichte und seiner offenen Haltung gegenüber religiöser Vielfalt zeigt Andorra, dass selbst ein kleines Land eine große Rolle spielen kann, wenn es darum geht, ein Vorbild für Toleranz und friedliches Zusammenleben zu sein. Dieses Erbe ist in Andorra nicht nur eine Quelle des Stolzes, sondern auch ein Lichtblick für die jüdische Gemeinschaft und darüber hinaus. Andorra beweist, dass eine Gesellschaft, die auf Respekt und Dialog setzt, für alle ihre Bürger Sicherheit und Würde schaffen kann.

Die meisten Juden Andorras sind Nachkommen von Flüchtlingen, die Marokko und andere Maghreb-Staaten zur Zeit des Sechstagekrieges in Israel verlassen mussten. Davor gab es in der Region über Jahrhunderte hinweg quasi keine Juden. Das Edikt von Alhambra, das nach Vollendung der Reconquista erlassen wurde, beschloss die Vertreibung sämtlicher praktizierender Juden von der Iberischen Halbinsel. Dass die Erbmasse eines antisemitischen katholischen Königreichs heute als sicherer Hafen für Juden gilt, kann man als interessante historische Wendung betrachten.

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