Porträt

Klang des Lebens

Probierte vor einiger Zeit ein wasserdichtes Hörgerät aus – und hörte erstmals das Blubbern unter Wasser: Fiona Bollag Foto: Alain Picard

Man schreibt das Jahr 1983. Die kleine Fiona spielt mit ihren Händen, erkundet die Welt, hält Mama und Papa auf Trab. Er liebt es, mit ihr zu spielen. Aber wenn er sein elf Monate altes Baby ruft, reagiert es nicht. Das verwundert ihn, er beginnt, sich Sorgen zu machen. Irgendwann beschleicht ihn der Verdacht, seine Tochter könnte gehörlos sein.

Er kauft sich eine Trompete, stellt sich neben das schlafende Kind und spielt. Doch wieder nichts, die laute Musik des Instruments weckt das kleine Kind nicht. Für den Vater ist die Sache klar, bald erfolgt auch die Diagnose der Kinderärzte: Fiona kann nichts hören. Für den Vater bricht eine Welt zusammen, für die Tochter ist es der Beginn eines langen Wegs aus der Stille in die Welt der Klänge.

Das Hören musste Fiona Bollag erst allmählich lernen, Ton für Ton, Wort für Wort. »Ich bekam schon ganz früh Hörgeräte. Die ermöglichten mir, Teil der hörenden Welt zu sein. Aber es bedeutete noch lange nicht, alles hören zu können«, erzählt sie heute.

Wer sich mit ihr unterhält, nimmt eine aktive Frau wahr, lebensfroh und voller Tatendrang. Nichts erinnert daran, dass ihre Hörfunktion eingeschränkt ist. »Das habe ich dem Cochlea-Implantat zu verdanken«, sagt sie. »Durch das Implantat bin ich in der hörenden Welt angekommen.«

Bis es so weit war, dauerte es jedoch Jahre. Die Kindheit war behütet, »aber eben anders. Mit drei lernte ich sprechen, mit vier lesen. ›Mach auf‹ sollen meine ersten Worte gewesen sein oder eher ›ma-au‹, weil ich meine Lehrerin, Susann Schmid-Giovannini, nachahmen wollte«, sagt Fiona Bollag und lacht. Denn damals sei ihre Aussprache eben noch nicht deutlich gewesen.

Das Hören musste Fiona Bollag erst allmählich lernen

Nicht so heute. Mit fester, klarer Stimme artikuliert die Frau mit dem langen braunen Haar ihre Worte. »Ich hatte das Glück, als Kind von Susann Schmid-Giovannini begleitet zu werden. Sie gilt bis heute als eine Pionierin der auditiv-verbalen Erziehung und des Hörtrainings mit Hörgeräten und dem Cochlea-Implantat.«

Schmid-Giovannini begleitete Bollags Familie über lange Jahre hinweg und beriet die Eltern der hörgeschädigten Tochter, auch was die Kommunikation anging: »Frau Schmid-Giovannini war von Anfang an gegen Gebärdensprache. Sie war davon überzeugt, dass Menschen mit Gehöreinschränkung sprechen können.«

Der Vater stellt sich neben das schlafende Kind und spielt Trompete.

Fiona Bollag ging in die von Schmid-Giovannini geleitete Schule für hörgeschädigte Kinder in Meggen bei Luzern. Die Kleinklasse war in die örtliche Grundschule integriert und arbeitete nach dem gleichen Lehrplan. »So erhielt ich dieselbe Schulbildung wie alle anderen Kinder.« Dafür ist Fiona Bollag dankbar, auch für die Unterstützung, die sie von ihren Eltern erfuhr. »Meine Mutter ist eine Macherin, sie brachte und holte mich, war immer an meiner Seite. Auch mein Vater, aber er hatte anfangs Mühe mit der Diagnose. Irgendwann sagte ihm jedoch der Rabbiner: ›Du wirst sehen, aus Fiona wird etwas Besonderes.‹«

Der Tod des Vaters war ein heftiger Einschnitt für Fiona Bollag

Bei diesen Worten bricht ihre Stimme. Ihr Vater war ihr eine tragende Säule in ihrem Leben, vor elf Jahren ist er gestorben. »Das war für die Familie ein heftiger Einschnitt. Wir hatten eine sehr enge Verbindung.« Heute ist die Familie über Zürich, Raanana und New York verteilt. Ihre beiden älteren Geschwister sieht Fiona Bollag nicht mehr so oft, »doch wir sind in ständigem Kontakt und versuchen, uns regelmäßig zu besuchen«.

Mittlerweile hat Fiona Bollag eine eigene Familie gegründet. Die heute alleinerziehende Mutter mit zwei Töchtern im Alter von zehn und elf Jahren blickt auf ihre Jugend zurück. Sie mochte diese Zeit gar nicht: »Als Teenager wollte ich wie alle anderen sein. Ich war zwar überall, wo die Mädchen in meinem Alter auch waren. Aber ich hatte immer das Gefühl, dass über mich getuschelt wird. Dass das wohl einfach in dieses Alter gehört, war mir nicht klar. Die anderen Mädchen sprachen gar nicht über mich.«

Sie erinnert sich an die Schabbat-Essen auf den Machanot des Bne-Akiwa-Jugendbunds, wie sie es hasste, am Rand des Tisches zu sitzen. »Ich wollte mittendrin sein.« Das Gleiche in den Schlafräumen. Wenn sie nicht das Bett in der Mitte ergattern konnte, war es schwierig für sie, den Gesprächen zu folgen.

Hören habe etwas Dumpfes gehabt, erzählt sie. Die Erlösung erfolgte schließlich mit 16 Jahren, als sie ihr erstes Implantat erhielt. Das zweite wurde mit 21 eingesetzt. »Die Leute meinen immer, man wache aus der Narkose auf, und die akustische Welt prasselt auf einen ein. Doch so war das nicht.« Fiona Bollag musste erst wieder hören lernen. Ist der Hörnerv nicht geschädigt, kann dieser über dieses sogenannte Cochlea-Implantat direkt stimuliert werden.

Das Cochlea-Implantat stimuliert direkt die Nervenzellen elektrisch

Kernstück des Implantats ist ein Elek­trodenträger, der in die Hörschnecke eingeführt wird und dort die vorhandenen Nervenzellen elektrisch anregt. Darin liegt auch der wesentliche Unterschied zum Hörgerät: Dieses verstärkt den aufgenommenen Schall akustisch und ist auf eine Restfunktion der Haarzellen angewiesen, das Cochlea-Implantat hingegen stimuliert direkt die Nervenzellen elektrisch.

Das Implantat von Fiona Bollag musste also ganz fein eingestellt werden, um immer mehr Schall durchdringen zu lassen. »Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich meine Mutter fragte, ob das Vogel­gezwitscher da draußen sei. Da fing sie an zu weinen.« Was für die meisten Menschen komplett normal, ja vielleicht gar nicht mehr wahrnehmbar ist, war für Fiona Bollag jedes Mal eine akustische Sensation. Wie zum Beispiel das Bürsten nasser Haare. »Das macht jede und jeder, es ist nichts Besonderes. Für mich war es ein Erlebnis. Oder dem eigenen Atem zu lauschen. Vorher bedeutete es komplette Stille.«

Die Stille mag sie nicht besonders. Sie passt auch nicht zu der 42-jährigen Frau, die, wenn sie erzählt, mal schnell die Batterien ihres Soundprozessors wechselt, weil sie vorher nicht mehr dazu gekommen ist. Wenn das Gerät aus ist, muss Fiona Bollag von den Lippen ablesen. Ansonsten sei sie jedoch ein Wasserfall, meint sie schmunzelnd. So habe ihr Vater sie manchmal genannt. »Sei froh, dass ich es bin«, gab sie ihm dann zurück. Es stimmt, Fiona Bollag hat etwas Sprudelndes.

Start in ein Leben auf der Überholspur

Nach dem Implantat fing denn auch ihr Leben auf der Überholspur an: das Modemarketing-Studium in New York, viele Dates und eine Kelly Bag, die berühmte Tasche. »Als ich einmal zu Hause in Zürich war, blätterte ich ein Glamourheftchen durch. Darin war eine Kelly Bag abgebildet, darunter stand Birkin Bag.

Als Modebeflissene meldete ich den Fehler der Redaktion mit dem Hinweis, dass man mich nicht anrufen soll, da für mich das Telefonieren schwierig sei. Der zuständige Redakteur wurde hellhörig, fragte nach, natürlich per E-Mail, und als ich ihm sagte, was der Grund war, wollte er, dass ich ihm eine Seite über mein Leben schreibe.«

Der Rest ist Geschichte. 2006 erschien Fiona Bollags Biografie Das Mädchen, das aus der Stille kam, die einen großen Erfolg auf den Bestseller-Listen landete. Sie wurde auf Buchmessen eingeladen, gab Interviews und Lesungen und war eine gefragte junge Frau von 23 Jahren – mitten im Leben, mitten im Klang.

Nach einigen Jahren pulsierenden Lebens in New York, wo sie in der Modebranche arbeitete, heiratete sie und siedelte nach Berlin über, in die Nähe ihrer Schwester und ihres Schwagers, Rabbiner Josh Spinner, die damals dort lebten. In Berlin kam auch ihre erste Tochter zur Welt. »Als die Kinder noch Babys waren, habe ich mithilfe einer Vorrichtung am Kopfkissen, die vibrierte, gespürt, wenn sie weinen. Denn das Cochlea-Implantat schalte ich nachts ab.«

»Ich erinnere mich, wie ich meine Mutter fragte, ob das Vogelgezwitscher sei.«

Heute wohnt Fiona Bollag wieder in Zürich, in der Nähe des Ortes, wo sie groß geworden ist. Von ihrem Mann ist sie geschieden, ihre große Liebe blieb die Mode, womit sie bis heute Beruf und Hobby vereint. »Fashiona« nennt sie sich auf Ins­tagram. Und wie ging die Sache mit der Kelly Bag aus? »Die kaufte ich mir mit meinem ersten Buchhonorar, trotz monatelanger Warteliste.«

Die Sache mit der Kelly Bag

An einem zweiten Buch zu arbeiten und zu reflektieren, was es bedeutet, ganz in der Welt der Hörenden angekommen zu sein, würde sie reizen. Trotzdem sei sie über technische Hilfsmittel wie WhatsApp oder Facetime froh. »Eine fremde Stimme am Telefon zu erkennen, ist für mich nach wie vor schwierig.«

Auch ist Fiona Bollag darauf angewiesen, dass man sich auf Hochdeutsch mit ihr unterhält. »Obwohl ich Schweizerin bin, verstehe ich den Dialekt nicht gut. Vielleicht deshalb, weil die Leute viel schneller sprechen, wenn sie Dialekt reden.« Ihre beiden Mädchen sind nichts anderes bei ihrer Mutter gewohnt. Nur wenn sie zusammen im Schwimmbad waren, dann mussten sie ihr auf die Schulter tippen, wenn sie mit ihr sprechen wollten.

»Das änderte sich, als ich Wasserratte vor einiger Zeit zum ersten Mal mein wasserdichtes Hörgerät aufsetzte. Ich sprang ins Wasser und war neugierig, ob ich dieses Blubbern wirklich höre, das ich mein ganzes Leben nur vom Hörensagen her kannte. Und dann war es, als hätte für einen kurzen Moment die Zeit stillgestanden. Bis eine meiner Töchter rief: ›Mama, kannst du mich jetzt hören?‹« Ja, Fiona Bollag kann es endlich.

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