Der Himalaya-Staat Nepal rühmt sich seiner ethnischen und religiösen Vielfalt. Doch die wenigen Wanderer, die sich im Distrikt Ramechap, weit abseits der Touristenzentren Kathmandu und Pokhara, auf den Indigenous Peoples Trail begeben, um »authentische Eingeborene« zu sehen, dürften überrascht sein, hier ausgerechnet auf junge Juden in einer kibbuzartigen Lebensform zu treffen. »Tevel« ist eine jüdisch-israelische Nichtregierungsorganisation (NGO), die sich globalen Herausforderungen durch Armut und Umweltschäden auf der Basis jüdischer Werte stellen möchte.
Gegründet 2007 als »Tevel Btzedek« von dem konservativen Rabbiner und Aktivisten Micha Odenheimer, hat die NGO mit Sitz in Jerusalem bis heute etwa 400 junge Israelis und Diasporajuden als Freiwillige nach Haiti und Nepal entsandt. Im November 2013 startete Tevel nun erstmals in Kooperation mit der nepalesischen NGO Nyayik Sansar ein zehnmonatiges Fellowship-Programm mit zehn jüdischen und neun nepalesischen Teilnehmern im Distrikt Ramechap, ungefähr 120 Kilometer südlich des Mount Everest.
Die mehrheitlich israelischen und amerikanischen Freiwilligen im Alter von 24 bis 34 Jahren sind auf die beiden Bergdörfer Dahu und Bhwasa nahe der Ortschaft Bethan verteilt. Ihre Arbeitsfelder: Landwirtschaft, Jugendarbeit, Frauen und Medien. Im Tevel-Haus in Dahu, einem einfachen Bauernhaus ohne Strom und fließendes Wasser, leben die Ukrainerin Alisa (28), die Israelis Hava (24) und Ofek (28) sowie die US-Amerikanerin Cara (25) – alle kommen frisch von der Uni oder sind junge Berufstätige.
altersstufen Das Ziel von Tevel und Nyayik Sansar ist es, die Bevölkerung vor Ort zu unterstützen, um das Leben dort für alle Altersstufen attraktiver zu machen. In den beiden Dörfern will die Organisation langfristig aktiv sein. Deshalb sollen die diesjährigen Fellows Pionierarbeit leisten, um den Weg für zukünftige Teilnehmer zu ebnen. Erreicht werden soll eine weitgehende Selbstversorgung durch die Nutzung des lokalen »Kitchen garden«. Wenn ihr Einsatz beendet ist, sollen die Tevel-Fellows dann ihr erworbenes ökologisches Wissen in ihre jüdischen Gemeinden zu Hause einbringen.
Der herrliche Ausblick auf die bereits in Tibet gelegenen Spitzen des Himalaya in der Ferne könnte Dahu als einen alpinen Ferienort erscheinen lassen, gäbe es fließend Wasser, Heizung und sonstigen Luxus, der im Westen als selbstverständlich gilt. Die 400 Haushalte der mehrheitlich tamang-buddhistischen Bevölkerung verfügen meist über eigene kleine Höfe mit ein paar Hühnern, Ziegen und je nach sozialer Lage einem oder mehreren Büffeln. Gekocht wird im Tevel-Haus aus hygienischen Gründen sowie wegen der Koscher-Richtlinien der Organisation ausschließlich vegetarisch. Das nepalesische Nationalgericht DhalBhat, eine Linsensuppe mit Reis und Gemüse, steht in der Regel mindestens einmal täglich auf dem Speiseplan. Am Schabbat ruht alle Feldarbeit, und die Feiertage des jüdischen Kalenders werden naturnah in ihrer ganzen kosmischen Dimension erlebt.
Hygiene Alisa Poplavskaya arbeitet im Bereich Jugendarbeit und Bildung mit Kritika Dawadi (24) von Nyayik Sansar zusammen, was ihr die Kommunikation mit den Schulkindern erleichtert. In den ersten beiden Monaten hat Alisa Einführungskurse in ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft in Israel sowie in die nepalesische Sprache in Kathmandu absolviert.
Jetzt ist sie vor Ort und entwirft mit der aus Kathmandu stammenden Kritika ein Hygiene-Programm für die Schule von Dahu. Die drei- bis 16-jährigen Kinder hatten bislang weder sauberes Wasser zu trinken, noch die Möglichkeit, sich nach dem Gang zur Toilette die Hände zu waschen. Nur ein geringer Anteil der Kinder geht regelmäßig zur Schule. Alisa und Kritika wollen dies ändern, besuchen jede Klasse und Altersgruppe und leisten spielerisch Aufklärungsarbeit in Sachen Sauberkeit und Gesundheit. Sehr stolz sind die beiden auf den neuen Wassertank, der jetzt dank ihrem Engagement mit frischem Wasser auf dem Schulgelände steht. Der Tank wurde extra per Jeep aus dem nahen Ort Lubbogat geliefert.
»Die Zusammenarbeit mit Kritika macht Spaß, gerade weil wir aus unterschiedlichen Kulturkreisen kommen, aber trotzdem einen gemeinsamen Ansatz haben«, sagt Alisa. »Es ist uns sehr wichtig, die äußere Hygiene mit der inneren zu verbinden und die Kinder auch zu inspirieren.« In einem Kunstwettbewerb sollen die Kinder das bislang erworbene Wissen kreativ mit selbst gemalten Bildern und Liedern darstellen.
Auch nach der weitgehend friedlich verlaufenen Wahl im vergangenen November leidet Nepal noch immer an politischer Instabilität, einer Nachwirkung des erst 2006 beendeten Bürgerkriegs zwischen Maoisten und Monarchisten. Die Landbevölkerung schrumpft durch die Massenflucht der Jugend in die Hauptstadt Kathmandu. Immer mehr junge Familien werden getrennt, weil ein Elternteil wegen besserer Verdienstmöglichkeiten ins Ausland geht, um dann Geld nach Hause zu schicken. Man schätzt, dass auf diese Weise ein Viertel des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet wird. Sie arbeiten zumeist als illegale Pflegekräfte oder Bauarbeiter – vor allem in den Golfstaaten – unter unwürdigen Bedingungen.
Ausländische Hilfsorganisationen werden von einigen Einwohnern durchaus kritisch gesehen. Viel ist ihnen in der Vergangenheit versprochen worden, doch nur wenig wurde wirklich umgesetzt. Außerdem sind nach wie vor zahlreiche westliche Glaubensgemeinschaften missionarisch tätig.
Umgangsformen Tevel dagegen versucht, die jüdische Identität der jüdischen Teilnehmer zu stärken – dem jüdischen Selbstverständnis entsprechend ohne Missionsabsicht anderen gegenüber. Aus diesem Grund sind alle Fellows angehalten, den Alltag der Dorfbewohner nicht durch offen zur Schau gestellte westliche Kultureinflüsse zu verändern. Bescheidene Kleidung, keine wilden Partys und ein rasches Erlernen der nepalesischen Umgangsformen sind das A und O. In Nepal darf man zwar auf die Straße spucken, aber sich auf keinen Fall am Tisch mit einem Taschentuch die Nase putzen. Wenn man jemandem etwas mit der Hand reicht, dann auf keinen Fall mit der linken, der sogenannten Toilettenhand. Und wer Klopapier benutzt, sollte es ganz unbemerkt einpacken und später irgendwo ungesehen verbrennen. Gegessen wird mit der Hand, und wenn man nicht laut »Pugio!« (Genug!) sagt, dann wird einem immer mehr aufgetan – und Reis ist heilig, darf also nicht stehengelassen werden.
Einmal im Monat fahren alle Freiwilligen nach einer kurzen Wanderung samt erfolgreicher Flussüberquerung mit Jeeps und den sogenannten Tuk-Tuk-Bussen zurück nach Kathmandu, um in einem Seminar neue Fähigkeiten zu erlernen und die bisherigen Leistungen zu evaluieren. Dazu gehört auch der sogenannte »Heart Compass«, eine möglichst ehrliche Einschätzung des Wertes der eigenen Arbeit. Zu den nächsten größeren Projekten gehört die Demo-Farm des Landwirtschaftsteams. Hier soll gezeigt werden, wie vorhandene Ressourcen sich mit einfachen Mitteln besser nutzen lassen.
Radioprogramm Das Medienteam in Bhasa will den häufig analphabetischen älteren Einwohnern helfen, mit in ihrem Namen verfassten Postkarten die Angehörigen im Ausland auf dem Laufenden zu halten. Der jüngeren Generation soll ermöglicht werden, mithilfe moderner Medien von zu Hause aus die Welt zu entdecken und sich im eigenen Selbstverständnis nicht länger als »Peripherie« zu empfinden. Demnächst soll ein von jungen Nepalesen entworfenes Radioprogramm starten. Man möchte einmal pro Woche in einem beliebten Lokalsender mit Reichweite bis nach Kathmandu senden.
Die Ziele von Tevel sind hochgesteckt. Die Arbeit will den Alltag der Menschen in den Einsatzgebieten verbessern; gleichzeitig sollen jüdische Aktivisten den Wandel zurück nach Hause tragen. In erster Linie soll es auf soziales Engagement in den Gemeinden und ökologische Nachhaltigkeit hinauslaufen. Bislang kamen die Freiwilligen fast ausschließlich aus Israel und den USA, aber in Zukunft möchte Rabbiner Micha Odenheimer auch verstärkt die Fühler nach Europa ausstrecken. Zielgruppe sind junge jüdische Erwachsene, orthodox, liberal oder säkular, die im Rahmen der eigenen Tradition die Welt verbessern möchten.
www.tevelbtzedek.org