Eine schwarze Marmorplatte am Straßenrand erinnert an das Verbrechen. Am 15. September 1941 rückte die »Einsatzgruppe C« der Waffen-SS in die ukrainische Stadt Berditschew ein. Die Soldaten nahmen jüdische Bürger gefangen, die zuvor von der Wehrmacht in einem Ghetto interniert worden waren. Dann trieb die SS ihre Opfer auf ein Feld vier Kilometer außerhalb der Stadt. Dort erschossen die deutschen Besatzer 18.640 jüdische Frauen, Kinder und Männer.
Wenn Miroslaw Grinberg (34) auf dem Acker steht, wo die Morde geschahen, lässt ihm die Erinnerung keine Ruhe. Denn noch immer sind die Opfer nicht bestattet. Umgeben von Wildgras und Unkraut steht mitten auf dem Feld eine Baumgruppe. Hinter dem Gestrüpp sieht man Dutzende Knochen. Menschliche Überreste ragen aus dem Lehm hervor oder liegen neben Wodkaflaschen verstreut auf dem Boden. »Meine Großmutter wurde hier von den Nazis erschossen«, sagt Grinberg. »Der Anblick bereitet mir Schmerzen.«
Behörde Seit Jahren will die jüdische Gemeinde von Berditschew die Opfer des Massenmords bestatten. Dafür benötigt sie das Einverständnis der Behörden. Die Kreisverwaltung jedoch stellt sich stur: Mal fühlt sie sich nicht zuständig, mal fordert sie Geld.
In der Karl-Liebknecht-Straße residiert in einem Betonklotz aus Sowjetzeiten die Kreisverwaltung von Berditschew. Deren Leiter Wolodimir Sbaraschskij möchte von dem Massengrab am liebsten nichts wissen. »Die Stadt ist dafür nicht verantwortlich«, sagt der Mann mit der stämmigen Figur und den grauen Haaren. Das Feld liege auf dem Territorium eines anderen Dorfes. Es könne schon sein, dass dort Knochen liegen, fügt Sbaraschskij hinzu, »manchmal graben dort eben Leute«. Im Übrigen habe die Kreisverwaltung andere Probleme. »Wir wollen ausländische Investoren nach Berditschew holen«, erklärt er.
Friedhof »Die Situation ist unerträglich«, entgegnet Rabbiner Akiwa Nemoj von der jüdischen Gemeinde. Nemoj will die Toten bestatten, jedoch steht ihm die Bürokratie immer wieder im Weg. Derzeit ist das Feld für die Landwirtschaft ausgewiesen. Erst wenn die Kreisverwaltung das Massengrab im Katasteramt registriert, kann die Gemeinde einen Friedhof und einen Weg anlegen. »Bis jetzt hat sich nichts getan«, berichtet der Rabbiner.
Berditschew war seit dem 17. Jahrhundert ein jüdisches Zentrum. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten rund 38.000 Juden in der Stadt. Die deutschen Besatzer ermordeten fast alle jüdischen Bürger – nur 15 überlebten den Holocaust. Bis Mitte der 90er-Jahre wanderte ein Großteil der jüdischen Bevölkerung aus, vor allem nach Israel, Deutschland und in die USA. Heute kommen pro Jahr rund 50.000 jüdische Touristen nach Berditschew – die meisten machen auch bei dem Massengrab halt.
Oleksandra Bienert (30) ist gerade mit dem Zug aus Kiew in Berditschew eingetroffen. Die Ukrainerin lebt seit acht Jahren in Berlin und will der jüdischen Gemeinde bei der Bergung der Grabstätte helfen. »Wir tragen die Verantwortung, die Erinnerung an den Holocaust zu pflegen«, sagt die Frau mit den schwarzen Haaren, die selbst nicht jüdischer Herkunft ist. In Berditschew hat Bienert Termine mit jüdischen Organisationen sowie mit der Kreisverwaltung gemacht. »Dort fragte man, was ich hier überhaupt suche.«
Gegenleistung Später will Behördenleiter Sbaraschskij verhandeln: Man sei bereit, sich um das Grab zu kümmern, sagt er. Als Gegenleistung müsse die jüdische Gemeinde einer Schule 5000 Euro für einen Computerraum spenden. »So läuft das hier immer«, sagt Rabbiner Nemoj. Die jüdische Gemeinde habe aber kein Geld für die Computer, fügt er hinzu. Er wolle sich auf den Deal auch deshalb nicht einlassen, weil die Verwaltung dann jedes Jahr neue Forderungen stellen würde.
Die Regierung im rund 150 Kilometer östlich gelegenen Kiew will den Skandal vertuschen – und schaltet den Geheimdienst SBU ein, um das Problem herunterzuspielen. »Ein Beamter hat mich gewarnt, nicht mit den Medien zu sprechen«, berichtet ein Vertreter der jüdischen Gemeinde, der aus Angst seinen Namen nicht nennen will. Dafür wolle der Geheimdienst den Vandalismus auf dem Massengrab beenden und beim Bau eines Friedhofs helfen. »Doch daran glaube ich nicht«, erklärt das Gemeindemitglied.