Niemand, der die Wahrheit über den Holocaust kennt und über die Leiden Polens in der Zeit des Zweiten Weltkriegs, kann einer solchen Politik zustimmen», empörte sich Polens nationalpopulistischer Premier Mateusz Morawiecki am Sonntag über Israel.
«Das Ausnutzen dieser Tragödie für partikulare Interessen ist verwerflich und verantwortungslos. Wenn die israelische Regierung Polen weiterhin auf diese Weise attackiert, wird dies einen sehr negativen Einfluss auf unsere Beziehungen haben, sowohl auf der bilateralen als auch auf der internationalen Ebene», drohte Morawiecki in einer langen, auf Facebook publizierten Erklärung.
REPRIVATISIERUNG Vorausgegangen war dieser scharfen Kritik an Israel am Samstag die Unterschrift von Präsident Andrzej Duda unter das hoch umstrittene Reprivatisierungsgesetz. Obwohl die USA und Israel schon vor Wochen gegen das harmlos klingende «Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung» protestiert hatten, berücksichtigte keine der beiden Kammern des polnischen Parlaments die Einwände gegen das Gesetz.
Die neu eingefügte 30-jährige Verjährungsfrist für staatliches Unrecht würde, so die Experten in Israel und den USA, vor allem Opfer der Schoa und ihre Verwandten treffen, die nach dem Krieg vom polnischen Staat enteignet wurden.
Bisher mussten Eigentumsansprüche aus der unmittelbaren Nachkriegszeit über meist langwierige und teure Prozesse geklärt werden, da Polen als einziges postkommunistisches Land in der EU kein Reprivatisierungsgesetz verabschiedet hatte.
«Dies ist ein unmoralisches und antisemitisches Gesetz.»
Israels Außenminister Yair Lapid
Heftig protestiert hatte auch Polens Landadel, dessen Eigentum die Kommunisten nach dem Zweiten Weltkrieg konfisziert und den landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften oder auch Kleinbauern übertragen hatten.
Bereits wenige Stunden, nachdem Duda seine Unterschrift unter die Gesetzesnovelle gesetzt hatte, empörte sich Israels Außenminister Yair Lapid auf Twitter: «Dies ist ein unmoralisches und antisemitisches Gesetz.» Noch am Samstagabend beorderte er Tal Ben-Ari Yaalon, die Geschäftsträgerin der israelischen Botschaft in Warschau, «für eine unbestimmte Zeit zu Beratungen» nach Jerusalem zurück. Die unmittelbar bevorstehende Abreise des neuen israelischen Botschafters in Warschau werde verschoben.
Dem polnischen Botschafter in Tel Aviv hingegen empfahl Lapid, «seinen Heimaturlaub in Polen fortzusetzen», der polnischen Regierung zu erklären, «welche Bedeutung die Schoa für die Israelis» habe – und möglichst nicht allzu bald nach Tel Aviv zurückzukehren. Auch Israels Regierungschef Naftali Bennett sprach von einer «beschämenden Verachtung für die Erinnerung an den Holocaust».
EMPÖRUNG Premier Morawiecki konterte, Lapids Worte würden «bei jedem ehrlichen Menschen Empörung hervorrufen». Die Angriffe israelischer Politiker gegen den polnischen Botschafter in Tel Aviv und der in Israel wachsende Hass gegenüber den im Land lebenden Polen hätten ihn dazu bewogen, die Kinder des Botschafters «in einem sicheren Transport» nach Warschau zurückzuholen. «Polen lässt seine Diplomaten in der Not nicht im Stich.»
In den polnischen Medien findet das Zerwürfnis der Spitzenpolitiker Polens und Israels breite Beachtung. Viele Kommentatoren sind der Ansicht, dass die bilateralen Beziehungen seit dem Sechstagekrieg 1967 nicht mehr so schlecht gewesen seien. Nach den sogenannten Märzereignissen von 1968 vertrieb der polnische Staat mit einer antisemitischen Hetzkampagne bis zu 30.000 Juden aus Polen und erkannte ihren die Staatsbürgerschaft ab. Das Eigentum, das sie zurücklassen mussten, die Häuser und Wohnungen, Geschäfte, Werkstätten und Fabriken, übernahm häufig der Staat.
30 Jahre nach der politischen Wende von 1989 hat Polen nun endlich ein Reprivatisierungsgesetz verabschiedet. Doch statt den Opfern der unrechtmäßigen Enteignungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und 1968 eine gewisse Entschädigung zuzusprechen, sollen sie leer ausgehen. Ihre Ansprüche seien «verjährt».
«rechtssicherheit» Zur Begründung wird angeführt, dass sich in Polen eine Mafia breitgemacht hat, die sich Hunderte, wenn nicht Tausende einst enteignete Immobilien unter den Nagel reißen konnte. Die regierenden Nationalpopulisten behaupten, mit dem Verjährungsgesetz für Staatsunrecht endlich «Rechtssicherheit» herzustellen.
Zwar wird mit dem Gesetz tatsächlich der polnischen Immobilienmafia das Handwerk gelegt, doch das Gesetz macht es zugleich den Opfern unmöglich, nach Ablauf von 30 Jahren die Entscheidung einer Behörde als «nicht rechtens» anzufechten.
Von den Enteignungen waren keineswegs alle Staatsbürger Polens gleichermaßen betroffen. Direkt nach dem Krieg schufen polnische Juristen die Rechtskategorie des «verlassenen Eigentums». Meldeten sich die Eigentümer eines Hauses, einer Wohnung oder einer Fabrik nicht innerhalb einer bestimmten Frist, übernahm der Staat diese Immobilien.
Das betraf vor allem Juden, die gegen Ende des Krieges oft auf Todesmärschen aus dem besetzten Polen ins Deutsche Reich getrieben wurden, dort von den Westalliierten aus Konzentrationslagern befreit und häufig vom Roten Kreuz in Schweden oder der Schweiz gesundgepflegt wurden.
«Das Ausnutzen dieser Tragödie für partikulare Interessen ist verwerflich.»
Polens Premier Mateusz Morawiecki
Viele kehrten erst nach Ablauf der Frist nach Polen zurück und standen dann vor ihrem Haus, das bereits anderen zugewiesen worden war.
Nach zahlreichen Pogromen an heimkehrenden Schoa-Überlebenden verließen bis zu 200.000 Juden panikartig das Land. Andere kehrten erst gar nicht nach Polen zurück.
Das «verlassene Eigentum», das von ethnischen Polen übernommen wurde, heißt im Volksmund «pozydowskie» oder auch «postjüdisch». Auch die polonisierten Deutschen, die oft viele Jahrhunderte in Polen gelebt und neben den Juden eine zweite große Minderheit gebildet hatten, verloren durch das Dekret über das «verlassene Eigentum» ihre Häuser und Wohnungen. Im Volksmund heißt dieses Eigentum «poniemieckie» – postdeutsch.«Das Ausnutzen dieser Tragödie für partikulare Interessen ist verwerflich.»
MINDERHEITEN Auch die vor allem in Südostpolen lebenden Ukrainer verloren ihr Eigentum. Sie wurde vertrieben und in ganz Polen neu angesiedelt, die alten ukrainischen Dörfer aber wurden verbrannt und dem Erdboden gleichgemacht.
Ethnische Polen waren von diesen Enteignungen nicht oder kaum betroffen. Bei einem richtigen Reprivatisierungsgesetz hätten die ehemaligen Minderheiten – rund 30 Prozent der Vorkriegsbevölkerung – eine Entschädigung für vom polnischen Staat verübtes Unrecht erhalten müssen. Dazu konnte sich seit 1989 keine Regierung in Warschau durchringen.
Israels Außenminister Lapid antwortete Polens Premier Morawiecki noch einmal am Sonntag: «Die Zeiten sind vorbei, in denen Polen Juden verletzen konnten, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Israel hat keine Angst vor antisemitischen Drohungen und hat auch nicht die Absicht, die Augen vor dem schändlichen Verhalten der antidemokratischen polnischen Regierung zu verschließen.»