In Tunesien ist ein innenpolitischer Machtkampf im Gange, dessen Ausgang mit dazu beitragen wird, ob das arabische Land seine aufgeklärte, westlich orientierte Gesellschaftsordnung behalten kann, oder ob die Islamisten die Oberhand gewinnen werden. Es geht um jüdische Pilger, die jedes Jahr zu Tausenden auf die Urlaubsinsel Djerba strömen, um dort die älteste erhaltene Synagoge Nordafrikas zu besuchen. Radikale muslimische Abgeordnete wollen durch einen Parlamentsentscheid erzwingen, dass israelischen Staatsangehörigen dieses Besuchsrecht künftig verwehrt oder zumindest deutlich erschwert wird.
Tunesien hatte den sogenannten Arabischen Frühling ganz gut überstanden. Im Gegensatz zu Ägypten rollten keine Panzer, es gab kaum blutige Zusammenstöße, und die eingebrochenen Touristenzahlen wurden bald wieder ausgeglichen. In den ersten vier Monaten dieses Jahres kamen rund eine Million Urlauber nach Tunesien – 7,1 Prozent mehr als vergangenes Jahr. Kein Zweifel, dass dies auch der Verdienst der als besonders tüchtig geltenden Tourismusministerin Amel Karbul war, die auf zahlreichen Auslandsreisen für ihr Land warb.
strände Viele Gäste begnügten sich nicht damit, die wunderbaren Strände aufzusuchen, sondern besichtigten als kulturelles Highlight die al-Ghriba-Synagoge auf Djerba, deren Entstehung der Legende nach auf das Jahr 586 v.d.Z. zurückgeht. Nach der Zerstörung des Salomonischen Tempels sollen Priester einen Stein des Altars mitgebracht und ins Gewölbe der al-Ghriba-Synagoge eingefügt haben.
Als die Tourismusministerin das Bethaus nicht nur im Ausland anpries, sondern auch ihre Landsleute aufforderte, Djerba und – wenn möglich – auch die Synagoge zu besuchen, hatte sie zwar die Sympathien des Präsidenten der jüdischen Gemeinde auf der Insel, Perez Trabelsi, gewonnen, nicht aber die der Islamisten. Sie sahen in dem Vorgehen der Ministerin einen Tabubruch.
Radikale Gruppen versuchen nun, die Regierung des Landes, das keine diplomatischen Beziehungen zu Israel unterhält, unter Druck zu setzen. Sie bereiten im Parlament einen Misstrauensantrag gegen die Ministerin vor, der sie unter anderem vorwerfen, im Rahmen ihrer Amtstätigkeit Israel besucht zu haben.
verfassung Auch Innenminister Ridha Sfar soll entlassen werden, da er die Erlaubnis erteilte, dass israelische Touristen tunesischen Boden betreten dürfen. Nach Ansicht der Islamisten verstößt dies gegen die Verfassung. Ob sie Erfolg mit ihrem parlamentarischen Vorstoß haben werden, erscheint allerdings zweifelhaft, denn für die Entlassung eines Ministers ist eine Zweidrittelmehrheit der insgesamt 217 Abgeordneten erforderlich. Die Radikalen können derzeit lediglich auf 80 Gefolgsleute zählen.
Wie weit der islamistische Einfluss inzwischen reicht, berichtete kürzlich die spanische Zeitung El Pais. So sollen im März Zollbehörden in Tunis verhindert haben, dass israelische Touristen ein Kreuzfahrtschiff verlassen, um an Land zu gehen. Noch will sich die Regierung unter Premier Mehdi Jomaa nicht dem Druck der Opposition beugen.
Er bezeichnete die aktuelle Debatte als »falsch« und erklärte: »Alle jüdischen Pilger sind in Ghriba willkommen.« Tourismusministerin Karbul zeigte sich von den Anfeindungen unbeeindruckt. Sie forderte die Verantwortlichen dazu auf, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, dass die jüdischen Touristen ohne Probleme die Synagoge besuchen können. Auch der tunesische Hotelverband hat sich für ein Ende des Streits ausgesprochen.
anschläge Die al-Ghriba-Synagoge ist aufgrund ihrer Bedeutung schon zweimal Ziel antisemitischer Anschläge gewesen. An Simchat Tora 1985 schoss plötzlich ein einheimischer Polizist, der für die Sicherheit der Synagoge verantwortlich war, auf feiernde Juden. Drei Menschen starben, darunter ein Kind.
Im April 2002 raste ein mit Flüssiggas beladener Lastwagen gegen die Außenmauer. In dem Flammenmeer kamen 19 Besucher ums Leben, darunter 14 aus Deutschland. Etwa 30 weitere Personen erlitten zum Teil schwere Verbrennungen. Die tunesische Regierung ging zunächst von einem Unfall aus, doch internationale Experten sprachen von einem Anschlag. Zwei Monate später bekannte sich das Terrornetzwerk al-Qaida zu der Tat.