Herr Ornique, Sie sind kürzlich in Athen gewesen. Wie kommt die dortige jüdische Gemeinde mit der Krise zurecht?
Die Menschen haben es schwer – und das seit Jahren. Aber sie gehen bewundernswert mit der Krise um. Die Gemeinde tut, was sie kann, es ist sehr viel Solidarität zu spüren, die Mitglieder unterstützen einander. Aber etliche haben Angst vor dem, was noch alles auf sie zukommt – denn man sieht ja noch lange kein Licht am Ende des Tunnels. Alle wissen: Die Zukunft der Gemeinde ist unmittelbar mit der Zukunft des Landes verbunden.
Wie viele Mitglieder sind derzeit auf die Hilfe der Gemeinde angewiesen?
In Athen kommen rund 330 nicht allein über die Runden. Das sind mehr als zehn Prozent der Mitglieder – und es werden immer mehr.
Was tun Sie für die Gemeinden?
Wir unterstützen sie auf zweierlei Art: Erstens helfen wir schon seit einigen Jahren mit Geld. Wir haben zwischen 2012 und 2014 knapp eine Million Euro zur Verfügung gestellt. Und in diesem Jahr sind es bereits 360.000 Euro, die wir als Nothilfe nach Griechenland geschickt haben: Geld für Lebensmittel, Medikamente, Umschulungen, Stipendien und vieles mehr.
Was tun Sie über die finanzielle Unterstützung hinaus?
Wir versuchen, der Gemeindeführung zu zeigen, wie sie eigene Ressourcen besser nutzen kann, wie sie wohlhabende Gemeindemitglieder dazu bewegt, mehr zu spenden, und wie sie eine Art Stipendienwesen ins Leben ruft, sodass auch Kinder aus ärmeren Familien auf der jüdischen Schule bleiben können. Wir geben den Gemeinden Tipps, wie man unter den schwierigen Umständen den Armen besser helfen kann und wie sich auch mit begrenzten Mitteln Sozialdienste aufrechterhalten lassen. Außerdem helfen wir bei der Haushaltsplanung – das ist schwierig in solchen Zeiten.
Sie verfügen über die Expertise, denn Ihre Organisation hat jahrzehntelange Erfahrungen im Umgang mit Krisen.
Ja, manche Entwicklungen in Griechenland erinnern mich an die Argentinien-Krise vor rund 15 Jahren. Als in Athen vor zwei Wochen wegen der geschlossenen Banken das Bargeld knapp wurde, haben wir der Gemeinde vorgeschlagen, Supermarktgutscheine zu kaufen und an bedürftige Mitglieder zu verteilen. So kann man ihnen auch ohne Bargeld helfen. Inzwischen bereiten wir uns auf den Fall vor, dass es in den Geschäften nicht mehr genügend Lebensmittel zu kaufen gibt. Wir hoffen zwar, dass es nicht so weit kommt, aber wir schaffen gemeinsam mit der Gemeinde eine Infrastruktur für diesen Notfall.
Hat Ihre Organisation in Griechenland auch eigene Strukturen aufgebaut?
Nein, das tun wir nie. Wir arbeiten immer mit den Gemeinden vor Ort zusammen. Zurzeit ermitteln wir gemeinsam den Hilfsbedarf. Das ist schwierig, denn wer weiß schon, was die nächsten Wochen bringen? In Griechenland kann sich zurzeit alles sehr schnell ändern.
Mit dem Europa-Direktor des Jewish Distribution Committee (JOINT) sprach Tobias Kühn.