Kopierte Notenblätter liegen auf dem Klavier, bekritzelt mit Anmerkungen, es sieht nach einem schweren Stück aus. Das Klavier ist ein wenig verstimmt, aber an manchen Stellen passen die schiefen Töne. Budapest, eine kleine Wohnung im Sechsten Bezirk. Der Pianist Zoltan Neumark (51) übt die Suite Jiddisch von Norbert Glanzberg. Sie wird dieses Jahr zum ersten Mal in Ungarn aufgeführt – als einer der Höhepunkte des Jüdischen Sommerfestivals in Budapest, das am 25. August beginnt. Gegründet 1998, ist es inzwischen eines der erfolgreichsten seiner Art in Europa.
Antisemitismus Und das in einem Land, in dem vor wenigen Monaten der Jüdische Weltkongress tagte, um auf den wachsenden Antisemitismus aufmerksam zu machen – wie passt das zusammen? Zoltan Neumark legt die Stirn in Falten bei dieser Frage; Politik ist ihm ein Graus. »Ungarn geht es wirtschaftlich sehr schlecht, deshalb wachsen auch Antisemitismus und Antiziganismus«, sagt er lakonisch. »Aber ich fühle mich nicht bedroht. Ich verberge mich nicht, und ich kann mein Judentum in meiner Kunst offen leben.«
So wie Neumark empfinden viele Juden in Ungarn. Ihr Lebensgefühl schwankt zwischen Besorgnis und Selbstbewusstsein. Viele fürchten nicht nur die rechtsextreme 17-Prozent-Partei Jobbik, sondern vor allem die antikapitalistisch-antiliberal-antieuropäische Rhetorik der rechtkonservativ-nationalistischen Regierungsmehrheit unter Ministerpräsident Viktor Orbán, eine Rhetorik, mit der in versteckter Weise antisemitische Ressentiments bedient werden.
Zugleich gibt es eine Renaissance jüdischen Lebens, vor allem in Budapest. In Ungarn leben knapp 100.000 Juden, die Hauptstadt hat die größte jüdische Gemeinde Osteuropas. Wie vielschichtig und widersprüchlich die Entwicklung im Land ist, zeigt auch das Jüdische Sommerfestival. Gegründet hat es die Budapester Kultur- und Tourismusmanagerin Vera Vadas (68). Das Festival präsentiert vor allem jüdische Musik, abgerundet wird das Programm durch Ausstellungen und Lesungen.
»Als das Festival 1998 zum ersten Mal stattfand, klang das Wort ›jüdisch‹ für viele ungewohnt«, erzählt Vera Vadas, »heute ist es völlig normal.« Den Erfolg des Festivals belegen die Besucherzahlen: Vergangenes Jahr kamen rund 100.000 Besucher, diesmal werden es wohl noch mehr sein; der Kartenvorverkauf hat Rekordniveau erreicht.
Doch neben der Erfolgsgeschichte gibt es auch eine andere Seite. Seit 2010 amtiert in Budapest der rechtsnationalistische Bürgermeister Istvan Tarlos. Zunächst kürzte er die Unterstützung für das Festival immer weiter, in diesem Jahr stoppte er sie. Eine Begründung gab es nicht. Vera Vadas möchte nicht über die Motive spekulieren. Fest steht, dass der Bürgermeister Festivals mit national-ungarischer Ausrichtung weiterhin sponsert.
Nebeneffekt Wohl auch um einem Skandal vorzubeugen, sprangen im Frühjahr das Ministerium für Humanressourcen und das Amt des Ministerpräsidenten mit großzügigen Summen ein. Dank des Sponsorings konnten die Festival-Organisatoren in diesem Jahr mehr Werbung schalten. Der negative Nebeneffekt: Über die Webseite des Festivals kamen massenweise antisemitische Hassmails – was Vera Vadas zuvor nie erlebt hatte.
Auch der Budapester Jazzmusiker Andras Des (35) tritt in diesem Jahr wieder beim Festival auf. Lange Zeit war es für ihn ganz natürlich, aus einer jüdischen Familie zu kommen. Inzwischen ist es das nicht mehr. Seine Eltern und er stehen auf rechtsextremen »Judenlisten« im Internet; besonders seine Mutter, eine bekannte Soziologin, wird verunglimpft. »Mir selbst«, erzählt er, »klopfen immer öfter Leute freundlich auf die Schulter und sagen, sie wüssten, dass ich Jude sei, aber sie persönlich hätten kein Problem damit.«
Das Jüdische Sommerfestival bedeutet viel für Andras Des. Es ist mehr als nur eine gute Gelegenheit, viele Kollegen zu treffen. Er fühlt sich als ungarischer und als europäischer Musiker, und das Festival ist ein geeigneter Ort, an dem er beides ganz sein kann. »Es ist eine wunderbare Sache, zu Europa zu gehören, es ist die beste Wahl, die Ungarn in seiner Geschichte jemals getroffen hat«, sagt Andras Des. »Ich hoffe, dass unser Land und unsere Kultur sich nicht von Europa entfernen.« (mit n-ost)