Braun gebrannt kommt er zum Gespräch in ein Berner Café. Eine Bergtour mit Freunden habe er gerade hinter sich. Mehrere Tage. Achtstündige Touren seien nichts Besonderes. Das spricht für Ausdauer, einen sicheren Tritt, ein Ziel vor Augen und eine gute Orientierung, auch in unübersichtlichem Gelände.
Ralph Friedländer ist seit Anfang Juni der neue Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Zwei Tage nach seiner Pensionierung wurde er von der 119. Delegiertenversammlung einstimmig gewählt.
Bis Ende Mai war er als Diplomat und Unterhändler in zahlreiche Abkommen der Schweiz mit dem Ausland involviert und blickt auf eine 30-jährige Karriere in verschiedenen Institutionen der Schweizerischen Bundesverwaltung zurück.
Geboren 1959 in Mosambik, aufgewachsen in Genf und im Tessin
Geboren 1959 in Mosambik, aufgewachsen in Genf und im Tessin, schließlich Psychologiestudium in Zürich, spricht Friedländer alle drei Landessprachen fließend und Englisch, Spanisch, Portugiesisch und Hebräisch obendrein. 2014 bis 2020 war er Präsident der Jüdischen Gemeinde Bern, die vergangenen vier Jahre SIG-Vizepräsident.
Mit sicherem Tritt auf dem Boden bleiben und gleichzeitig das Ziel beziehungsweise eine Vision verfolgen, scheint auch Friedländers Art im Hinblick auf seine neue Funktion zu sein. »Ich habe großen Respekt vor dem Amt, es ist eine schwierige Zeit«, räumt er ein. Seine Vision und sein Antrieb sei ein »gleichberechtigtes, vielfältiges und sicheres jüdisches Leben in der Schweiz«
»Ich habe im November 2023 Israel bereist und die Schauplätze des Schreckens besucht.«
An Herausforderungen mangelt es Friedländer nicht. Den Dialog mit den Mitgliedergemeinden des Dachverbands SIG wolle er künftig stärken und »integrierend wirken«, sagt der 65-Jährige.
Bei der Erwähnung des 7. Oktober 2023 und der seither explosionsartigen Zunahme antisemitischer Vorfälle in der Schweiz verdunkelt sich Friedländers Blick. »Ich habe im November 2023 Israel bereist und die Schauplätze des Schreckens besucht«, sagt er. Diese Bilder und die Begegnungen mit Betroffenen haben sich bei ihm tief eingebrannt. Die Erleichterung sei groß gewesen, als die Regierung im Frühling dem Hamas-Verbot zustimmte.
Gleichzeitig betont Friedländer, dass der SIG als Vertretung des schweizerischen Judentums keine Stellung nehme zur israelischen Politik, sondern nur zu den antisemitischen Auswirkungen in der Schweiz. Dazu zählen auch Sicherheitsmaßnahmen infolge der massiv zugenommenen Bedrohung jüdischer Einrichtungen seit dem 7. Oktober. Die öffentlichen Beiträge wurden seither verdoppelt – nicht zuletzt dank der guten Vernetzung des SIG in der Politik.
Interreligiöser Dialog mit den muslimischen Gemeinschaften
Der jüdische Dachverband setzt den interreligiösen Dialog im Allgemeinen und mit den muslimischen Gemeinschaften fort, sogar – oder erst recht – nach dem islamistischen Attentat Anfang März auf einen orthodoxen Juden in Zürich.
Das könne, davon ist Friedländer überzeugt, einen wichtigen Beitrag gegen Extremismus und für das gegenseitige Verständnis leisten. Seit dem 7. Oktober sei der Dialog jedoch schwieriger geworden, »insbesondere für die muslimischen Vertreter«.
Doch wäre es nicht auch Zeit für eine härtere Gangart gegenüber islamistischen und anderen extremistischen Gruppen, die allesamt eine Gefahr für eine demokratische Staatsordnung darstellen? Die Frage sei berechtigt, so der neue Präsident.
Friedländer setzt dabei auch auf die »Nationale Antisemitismusstrategie«: Im Juni hatte das Parlament den Bundesrat beauftragt, eine Strategie und einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus auszuarbeiten – nicht zuletzt das Resultat langjähriger, beharrlicher politischer Arbeit des SIG.
Nach dem 7. Oktober hätten beide Kammern die Dringlichkeit erkannt, angesichts der Vervielfachung antisemitischer Vorfälle. Besonders physische Angriffe hätten massiv zugenommen.
»Der Krieg im Nahen Osten wird unter anderen Vorzeichen auch vor unserer Tür ausgetragen«, sagt Friedländer mit Blick auf Demonstrationen und Universitätsbesetzungen durch sogenannte »propalästinensische« Aktivisten. Und gekoppelt mit Anti-Israelismus werde häufiger und teilweise völlig ungehemmt auch Judenhass geäußert, »in unserer Gesellschaft, mitten unter uns«.
Kaum ausreichende Ressourcen
Er weist allerdings auch auf ein arbeitstechnisches Dilemma hin: Seit dem 7. Oktober hätte mit der gestiegenen Zahl der Antisemitismus-Fälle in der Schweiz auch das statistische Erfassen der Vorfälle, einschließlich solcher im Internet, Bedeutung bekommen. Der SIG habe kaum ausreichende Ressourcen, um diese zusätzlichen Aufgaben zu meistern.
Hinsichtlich der Präventionsmaßnahmen strebe der SIG deshalb eine Entlastung durch die öffentliche Hand an: Der Bund solle eine Beobachtungsstelle gegen Antisemitismus im Internet einrichten oder den SIG gegen Entgelt mit der Erfassung beauftragen.
»Das wird auch im Hinblick auf Künstliche Intelligenz und Bots immer wichtiger«, betont Friedländer. Für ihn stehe außer Frage, dass »das Netz die wichtigste Quelle für Falschinformation und Hetze ist, gerade bei jungen Leuten«.
»Der Krieg im Nahen Osten wird auch vor unserer Tür ausgetragen.«
Judenfeindschaft on- und offline, Finanzlöcher und Mitgliederschwund bei einigen jüdischen Gemeinden: Friedländer hat kein einfaches Amt übernommen.
»Es ist eine schwierige Zeit«, sagt er, aber er glaube an das Prinzip von Tikkun Olam, die Verbesserung der Welt. Es gebe auch viele Lichtblicke, wie das bessere Verständnis der Behörden für die Lage der Schweizer Jüdinnen und Juden, namentlich im Sicherheitsbereich, und die Fortschritte bei den entstehenden nationalen Gedenkstätten für NS-Opfer in Bern und St. Gallen – die ersten dieser Art in der Schweiz. Der SIG gehörte zu den Impulsgebern.
»Ich hoffe«, schließt Friedländer, »dass das Judentum und jüdisches Leben in der Schweiz bald wieder vermehrt mit positiven Assoziationen verbunden sein werden, mit Jüdinnen und Juden als gleichberechtigte und vielfältige Teile der Schweizer Gesellschaft, die einen positiven Beitrag leisten und unverzichtbar sind.«
Doch seine Miene und seine Stimme verraten: Auch er weiß, dass er hier momentan nicht auf eine Wanderkarte schaut, sondern eher auf einen Hochglanzprospekt für Traumreisen.