Frankreich

Kaum jemand kam zurück

Präsident Macron beim Gedenken (2017) Foto: picture alliance / Pool/Erez Lichtfeld/Maxppp/MAXPPP/dpa

»In unserem Gebäude haben vier jüdische Familien gewohnt. Wir wurden alle festgenommen und zum Vélodrome gebracht. Niemand außer meiner Schwester und mir sind nach dem Krieg zurückgekehrt – niemand«, erinnert sich Arlette Testyler, eine der acht noch lebenden Zeitzeugen der Rafle du Vél d’Hiv, im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen.

Unter Anweisung des Vichy-Regimes sollte die französische Polizei am 16. Juli 1942 alle ausländischen Juden in Paris verhaften. Zum ersten Mal mitsamt Frauen und Kindern. Von den 22.000 Juden aus Polen, Russland und Österreich waren knapp 10.000 vorzeitig geflohen, da sich das Gerücht einer Massenfestnahme herumgesprochen hatte.

Polen Arlette Testyler und ihre Familie haben davon nichts mitbekommen: »In unserem Gebäude auf der Rue du Temple (im jüdischen Viertel) wurde niemand vorher gewarnt. Wir waren Aschkenasim aus Polen, meine Eltern sind dort vor den Pogromen geflohen. Wir haben der französischen Polizei vertraut«, erzählt die Zeitzeugin.

Als ihr Vater Abraham Reiman 1941 in einem Konzentrationslager interniert wurde, versicherte er seiner Tochter, er werde zurückkehren. Das »pays des droits de l’homme«, Land der Menschenrechte, »das Land der humanistischen Denker wie Voltaire, Zola und Rousseau« werde ihm nichts antun – das seien seine letzten Worte gewesen. 1942 wurde er in Auschwitz ermordet.

»Als es morgens um vier an der Tür hämmerte, ahnten wir erst nichts. Erst als meine Mutter die Tür öffnete und die Polizisten uns baten, unsere Sachen zu packen, versuchte sie, sie mit ganzer Kraft abzuwehren. Was sollten wir denn einpacken? Wir Juden hatten während des Krieges alles verloren«, erzählt Arlette Testyler.

Über 13.000 Juden wurden im Morgengrauen verhaftet, die Familien zum Vélodrome in der Nähe des Eiffelturms gebracht. »Sie hielten uns zwei Tage fest. Ohne Essen, ohne Wasser, ohne Toiletten.« Die 89-Jährige wirkt fast kindlich, während sie vom Velodrom erzählt.

War sie sich damals mit neun Jahren bewusst, was mit ihr und ihrer Familie passieren würde? »Auf jeden Fall!«, meint die Zeitzeugin. »Ich habe ja mit eigenen Augen gesehen, dass sich Leute vom Gebäude stürzten.

Meine Mutter sagte mir: ›Das sind bloß Laken, die in der Luft flattern‹, aber ich wusste, dass sie lügt. Ich bin dann mit meinem Nachbar zu den Wänden gelaufen, um dort zu pinkeln. Als ich die Blutlachen sah, machte ich mir in die Hosen und schrie: ›Sie bringen uns alle um!‹ Heute noch liegt mir der Gestank in der Nase. Ich rieche ihn sogar jetzt, wenn ich mit Ihnen darüber rede.«

Arlette Testyler und ihre Schwester Madeleine überlebten den Krieg dank ihrer Mutter Malka. Nach den zwei Tagen im Velodrom wurden die rund 8000 Gefangenen zu französischen Transitlagern gebracht. Da die Mutter dort als Übersetzerin diente, stuften die Soldaten ihre Familie als »nützliche Juden« ein.

»Das zweite Glück war, dass der Zug mitten auf der Strecke hielt«

Glück Später wurden sie in einem Passagierzug ins Konzentrationslager gebracht. »Das zweite Glück war, dass der Zug mitten auf der Strecke hielt«, erzählt die Zeitzeugin. Die Mutter zwang ihre Töchter, vom Wagen zu springen. Arlette und Madeleine Testyler fanden bei einer Familie in der Gegend von Tours Unterschlupf, bis die NS-Besatzer besiegt wurden.

Von den 4115 jüdischen Kindern, die im Vélodrome festgehalten und später nach Auschwitz deportiert wurden, kehrte kaum jemand zurück.
Heute behaupten französische Rechtsextremisten wie Éric Zemmour, die Vichy-Regierung habe bloß ausländische Juden an Deutschland ausgeliefert, um einheimische Juden zu schützen.

Bis heute tut sich Frankreich schwer mit der historischen Aufarbeitung. Erst 1995 sprach ein Präsident zum ersten Mal von Mitschuld an der Schoa. Zum 80. Jahrestag der Rafle du Vél d’Hiv wird neue Premierministerin Elisabeth Borne am 17. Juli eine Rede halten, und auch Arlette Testyler wird wohl zum letzten Mal öffentlich von ihren Erlebnissen erzählen wird

USA

Modisch und menschlich

Seit 25 Jahren betreibt Allison Buchsbaum eine Galerie für zeitgenössischen Schmuck in Santa Fe

von Alicia Rust  22.10.2024

Großbritannien

»Zionistisch und stolz«

Phil Rosenberg, der neue Chef des Board of Deputies of Jews, über den Kampf gegen Judenhass

von Daniel Zylbersztajn-Lewandowski  20.10.2024

Südafrika

Terroristin auf dem Straßenschild?

In Johannesburg soll eine wichtige Hauptverkehrsstraße nach der Flugzeugentführerin Leila Chaled benannt werden

von Michael Thaidigsmann  16.10.2024

New York

Versteck von Anne Frank wird nachgebaut

Rekonstruktion soll zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz in New York zu sehen sein

von Annette Birschel  16.10.2024

Österreich

Wenn der Rebbe keltert

Schlomo Hofmeister kauft jedes Jahr Trauben und produziert seinen eigenen koscheren Wein

von Tobias Kühn  16.10.2024

Lufthansa

Millionenstrafe wegen Diskriminierung von Juden

Die USA sanktionieren die Airline wegen des Ausschlusses von 128 jüdischen Fluggästen vom Weiterflug nach Ungarn

 16.10.2024

Indien

Kosher Mumbai

Mithilfe der »Jewish Route« soll in der indischen Metropole der reichen jüdischen Vergangenheit gedacht und eine Brücke zur Gegenwart geschlagen werden

von Iris Völlnagel  15.10.2024

Ungarn

Identitäten im Dilemma-Café

»Haver« nennt sich eine Stiftung, deren Ziel es ist, nicht-jüdischen Jugendlichen durch Spiele und moderierten Diskussionen das Judentum näherzubringen

von György Polgár  14.10.2024

Ungarn

Willkommen in Szarvas!

Einen Sommer über haben Kinder aus Osteuropa, aber auch aus Israel oder der Türkei in Szarvas neben Spaß und Spiel auch Stärke und Resilienz tanken können

von György Polgár  14.10.2024