Als Ted Merwin in den 70er-Jahren in den Vororten von New York aufwuchs, war die große Zeit der Delis schon lange vorbei. Die berühmten jüdischen Restaurants am Broadway, »Reuben’s« oder »Lindy’s«, wo die New Yorker Gesellschaft sich nach dem Theater zum Pastrami-Sandwich traf, gab es nicht mehr, lediglich das »Carnegie Deli« hatte überlebt. An der Lower East Side gab es noch »Katz’s«, »Russ and Daughters« und das »Second Avenue Deli«, doch die Anzahl der klassischen jüdisch-amerikanischen Familienrestaurants, die es in den 30er- und 40er-Jahren noch an jeder Ecke gegeben hatte, war bereits deutlich zurückgegangen.
Trotzdem ist für Merwin, der heute Judaistik unterrichtet und über jüdisches Leben und Pop-Kultur schreibt, das Deli ein zentraler Ort seiner Jugend. »Das Deli bei uns im Ort verband mich viel mehr als andere jüdische Institutionen mit meinen Vorfahren und meiner jüdischen Identität«, schreibt er im Vorwort zu seinem Deli-Buch Pastrami on Rye.
existenz Wann immer er als Jugendlicher im Deli von Great Neck ein Corned-Beef-Sandwich, eine Mazzeknödelsuppe oder gehackte Hühnerleber aß, so Merwin, sei ihm bewusst gewesen, dass er die gleichen Gerichte esse, die seine Großeltern bei Hochzeiten, Geburtsfeiern und Beerdigungen gegessen hätten. Es seien Gerichte gewesen, die sie mit ihren Generationsgenossen zu einer Zeit verbunden hatten, in der das Jüdischsein nicht nur eine Facette ihres Daseins gewesen sei, sondern »zentraler Fakt ihrer Existenz«.
Das Deli war für viele jüdische New Yorker ein wichtigerer Bezugspunkt als die Synagoge.
Seit damals sind rund 50 Jahre vergangen, und in New York dieses Erlebnis der Verbundenheit mit dem jüdischen Erbe zu haben, ist noch einmal deutlich schwieriger geworden. »Katz’s« gibt es noch, und das Pastrami dort ist noch immer herausragend, doch der Touristenrummel im ältesten Deli der Stadt macht es schwer, sich dort heimisch zu fühlen. »Russ and Daughter« ist zu einem durchgestylten Gourmet-Restaurant geworden, und das »Carnegie Deli«, das letzte der großen Broadway-Delis, schloss 2016 seine Pforten.
GENERATIONEN Das Aussterben des klassischen jüdischen Deli symbolisiert jedoch nicht bloß das Verschwinden einer jüdischen Institution, die, so Merwin, für Generationen jüdischer New Yorker ein wichtigerer Bezugspunkt war als die Synagoge. Es bedeutet auch eine spürbare Veränderung des Stadtbilds von New York, für das gut 100 Jahre lang das jüdische Deli prägend war. Mehr als 5000 solcher Lokale gab es in den 40er-Jahren, heute sind es kaum mehr ein Dutzend.
Die traurige Entwicklung war zweifellos einer der Anstöße für die New York Historical Society, dem jüdischen Deli in einer großen Ausstellung ein Denkmal zu setzen. In drei großen Räumen im Erdgeschoss des Hauses am Westrand des Central Park kann der Besucher noch bis April kommenden Jahres in eine verlorene Zeit reisen.
Die Ausstellung bemüht sich erst gar nicht, sich nicht in die Fallstricke der Nostalgie zu verheddern. Sie verströmt von dem Moment, in dem man sie betritt, eine Sehnsucht nach einem New York, in dem die Bindestrich-Kulturen der klassischen Einwanderergruppen – Juden, Italiener, Iren, Deutsche und Chinesen – noch das Stadtbild und das Leben der Stadt prägten. Man sehnt sich nach einer Epoche zurück, in der das Herz von New York noch nicht eine durchglobalisierte Konsumzone war und die Einwandererkulturen tief in die Randbezirke gedrängt wurden.
Die Sentimental Journey in das New York der ost- und südeuropäischen Einwanderer beginnt, wie wollte es anders sein, auf der Lower East Side von Manhattan, wo in den Jahren zwischen 1880 und 1920 rund zwei Millionen jüdische Einwanderer ihr erstes Heim in der neuen Welt fanden. Die meisten kamen direkt von der Quarantäneinsel Ellis Island in das Quartier, das man nach heutigen Standards als Slum bezeichnen würde. Auf nicht einmal einem halben Quadratkilometer lebten mehr als 70.000 Menschen, in den oft fensterlosen Wohnungen hausten die Familien zusammengedrängt in winzigen Zimmern.
FLEISCH Wie man heute noch im Tenement Museum auf der Lower East Side sehen kann, schächteten viele Familien im Tiefgeschoss dieser Wohnquartiere selbst, um sich und die Nachbarschaft zu versorgen. Der Thekenverkauf fand direkt neben den Schlachträumen statt. Aus diesen Kleinstbetrieben entstanden die ersten Delis, Wurst- und Fleischverkäufe, oft deutschen Ursprungs, wie der Name »Delicatessen« schon andeutet.
Das »Katz’s«, das bis heute an der Ecke Houston und Ludlow Street seine Pastrami-Sandwiches verkauft, eröffnete 1888 nur wenige Meter vom heutigen Standort seine Türen. Bestuhlung gab es freilich damals noch nicht – bis die Delis anfingen, ihre Fleischprodukte, eingelegtes Gemüse, Knishes und Räucherfisch an Tischen zu servieren, sollte es noch ein paar Jahre dauern.
Was sich jedoch damals schon anbahnte, war, wie die Ausstellung eindringlich belegt, dass das jüdische Deli eine einzigartige amerikanische Institution war. Die Delis der Lower East Side und später anderer jüdischer Viertel in Brooklyn und Harlem boten eine Mischung aus verschiedenen mittel- und osteuropäischen Gerichten an. Die Zubereitung musste zudem der Verfügbarkeit bestimmter Fleischsorten und Gewürze und schließlich dem Geschmack des amerikanischen Publikums angepasst werden.
legende So wurde etwa die »Pastrama« rumänischer Juden noch aus Gänsebrust gemacht, als diese Gruppe in großen Wellen nach New York kam. Erst in Amerika begann man, sie aus dem billigeren und leichter zugänglichen Rinderbauch herzustellen. Sussmann Volk servierte dann der Legende nach im Jahr 1887 in seinem Deli auf der Lower East Side das erste Pastrami-Sandwich.
Schon um die Jahrhundertwende begann sich das jüdische Deli aus der Enge der jüdischen Wohnquartiere zu befreien.
Schon um die Jahrhundertwende begann sich dann das jüdische Deli aus der Enge der jüdischen Wohnquartiere zu befreien. Jüdische Delis wanderten vom südlichen Manhattan den Broadway hinauf und von Harlem in Richtung Süden. Delis eröffneten in Chelsea und am Times Square und bewirteten besonders am Sonntag nichtjüdische New Yorker. Das Sonntagsmahl im jüdischen Deli ersetzte für eine wachsende Zahl urbaner Christen die Mittagszeit am Familientisch nach der Kirche.
Die große Zeit des jüdischen Deli in New York, der die Ausstellung auch den größten Raum gibt, kam jedoch nach dem Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Anbruch des Jazz Age in New York. Die legendären Delis »Reuben«, das »Stage Diner«, »Lindy’s« und das »Carnegie Deli« eröffneten am Broadway und wurden zu Zentren des gesellschaftlichen Lebens von New York.
SYMBOL Die Delis am Broadway waren Symbole des sozialen Aufstiegs der amerikanischen Juden. Die Besitzer waren meist Einwanderer der zweiten Generation, die mit ihren Restaurants ihr Ankommen in der amerikanischen Gesellschaft feierten. Die Tatsache, dass der Namenszug »Reuben’s« in grellem Neon über dem Broadway leuchtete, war eine Quelle großen Stolzes für New Yorker Juden.
Der Erfolg der Broadway-Delis ging Hand in Hand mit der Explosion des Broadway zu jenem Entertainment-Distrikt, als der er heute noch gilt. Die Zahl der Revuen, Theateraufführungen und Musicals am Broadway verdoppelte sich beinahe jährlich. Und auch in dieser Branche machte sich der jüdische Einfluss zunehmend bemerkbar. Juden schrieben Stücke und Partituren, sie standen auf der Bühne, sie arbeiteten als Agenten, und sie wurden Theaterbesitzer.
Der Besuch bei »Reuben’s« oder »Lindy’s« vor oder nach der Show wurde zunehmend zum New Yorker Ritual. Und das Ambiente der Etablissements passte sich an. Die Interieurs waren opulent und elegant, die Speisekarte ging weit über das Standardangebot des jüdischen Deli hinaus. Es gab Champagner und Austern und ein großes Angebot an nicht-koscheren Gerichten.
Und die Liste der Sandwiches auf den überdimensionalen Speisekarten bot eine schwindelerregende Vielfalt und Auswahl feil. Bei »Reuben’s« etwa konnte man aus 45 verschiedenen Sandwich-Zubereitungen wählen. Jedes besaß den Namen und, wie Reuben behauptete, den Charakter einer Showbusiness-Größe von Frank Sinatra über Judy Garland bis hin zu Danny Kaye. Ein Sandwich mit seinem Namen bei Reuben zu bekommen, wurde zu einem Ritterschlag im Showgeschäft.
BROADWAY Und natürlich fand das Deli in dieser Zeit dann auch Eingang in das Broadway-Entertainment selbst. 1925 eröffnete das Musical Kosher Kitty Kelly, in dem das Deli als Ort gefeiert wurde, an dem die verschiedensten New Yorker Bevölkerungsgruppen zusammenkommen. 1926 wurde der Stummfilm Private Izzy Murphy gedreht, in dem George Jessel einen Deli-Besitzer nach dem Vorbild des Stage-Diner-Besitzers Max Asnas spielt.
Seither hat das jüdische Deli einen Stammplatz in der Popkultur. Es spielt Hauptrollen in Filmen von Woody Allens Broadway Danny Rose bis zu When Harry Met Sally, mit der pikanten Szene, die das »Katz’s« weltberühmt gemacht hat. Und die Serie Seinfeld ist ohne Deli ebenso undenkbar wie die Sitcom Curb Your Enthusiasm.
Mit dem Niedergang des Times Square zum Schmuddelbezirk in den 60er-Jahren verloren die Delis am Broadway dann jedoch ihren Glanz. Und als ab den 70er-Jahren fettiges, schweres Essen zunehmend unpopulär wurde, nahm die Zahl der Delis in New York dramatisch ab. Was blieb, sind die wenigen Institutionen wie das »Katz’s« oder das »Second Avenue Deli«.
VERSCHWINDEN Dem Deli erging es nicht besser als den Institutionen anderer Einwandererkulturen. Spätestens mit der dritten Generation und der vollen Assimilation verschwinden die Originale. In Little Italy, das der Lower East Side unmittelbar benachbart ist, gibt es auch nur noch einen einzigen original-italienischen Feinkostladen in Familienbesitz.
In den vergangenen 20 Jahren erlebt das jüdische Deli dennoch ein Comeback – als Zitat, als Pastiche, wenn man so will.
In den vergangenen 20 Jahren erlebt das jüdische Deli dennoch ein Comeback – als Zitat, als Pastiche, wenn man so will. Original »New Yorker« Delis eröffnen an Orten wie Texas, Michigan, Kalifornien und Berlin. In Las Vegas gibt es gleich vier davon.
In New York selbst eröffnete in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von »Designer Delis«. Sie zitieren und aktualisieren das Original und erfinden es als »Haute Cuisine« oder »Artisanal Food« neu. So stehen heute die Hipster von Greenpoint bei »Frankel’s« Schlange, um sich für 16 Dollar einen Bagel mit »Pastrami-Lachs« zu holen.
Man kann das zynisch als Tod einer authentischen Kultur und ihre Wiedergeburt als Fetisch sehen. Oder man kann sich entspannen und sich daran erfreuen, dass es nun in Kreuzberg ein Pastrami-Sandwich gibt, das nach einhelliger Meinung der Kritiker dem von »Katz’s« in nichts nachsteht.
Die Ausstellung »›I’ll Have What She’s Having‹: The Jewish Deli« ist noch bis zum 2. April 2023 in der New York Historical Society zu sehen.